al-Mamets Reise in den Norden
Erster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Mit diesem neuen Lebensabschnitt beginne ich, Abd al-Mamet, nun diese Chronik meiner Tage. Trotz unseres Kampfes gegen den Erbfeind aus dem Norden sind wird ihm nun unterlegen. Das Leben bringt so manchen Rückschlag mit sich, doch schwach ist nur jener Verlierer, der sich nicht den neuen Begebenheiten anpasst. Mir ist die Aufgabe zuteilgeworden, mehr über unsere neuen Schutzherren zu lernen. Mir obliegt es, herauszufinden, ob sie würdig sind oder ob wir weiter kämpfen werden. Und natürlich muss ich nicht zuletzt ihre Schwächen erkennen, um meinem Volk zu dienen. So beginnt mit dieser Chronik meine Reise in den Norden. Ich werde die Menschen, die dort wohnen, begutachten und ihre Wege lernen. So schreibe ich, Abd al-Mamet, Diasyuth aus dem Stamm der Asyuth’jiran. Meine Reise wird mich nach dieser Zeit der unbarmherzigsten Sonne in die kühle Erleichterung des Wassers bringen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Fluss im Norden den Blick des Sha’maash so überstanden hat, dass er uns tragen können wird, doch sichert mir der Karawanenführer zu, dass es so sein wird. In ihrem eigenen Jahr ist die Goldene Schlange besonders unerbittlich, aber ich habe den Sommer überstanden. Früher loszuziehen wäre unverzeihliche Schwäche gewesen.
Achtzehnter Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Das Meer ist ein bitterer Witz, ein Spiegelbild meiner Heimat. So viel Wasser, nichts davon trinkbar. Der Herrscher dieses Schiffs ist ein großer, gegerbter Rakhshiker, der schnell poltert und noch schneller lacht. Doch selbst auf diesem Stück schwimmenden Landes gibt es einen Nordling, der ihn unruhig macht. Seine Leute murren, dass ihr Anführer nur noch ein halber Mann ist, seitdem der weiche Fremde an Bord ist, denn er muss bei jedem Befehl über seine Schulter schauen, ob ihm der Kaiserscherge widerspricht. Sie sind jedoch seine treuen Freunde, also rücken sie nur noch enger zusammen, um ihn zu unterstützen, selbst die Magader Kriegerin. Ich denke, vielleicht haben es diese Seefahrer noch schlimmer als wir. Mein Stamm wird nicht von Fremden durch die Wüste begleitet, die durch ihre bloße Anwesenheit unsere Freiheit in Frage stellen.
Vierundzwanzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Wir haben den Nordling vor ein paar Tagen in Rakhshe abgesetzt. Seitdem ist die Spannung an Bord abgeflacht. Dieser neugierige Schakal hat es aber auch provoziert. Als wir an einer hellen Stelle am Meer vorbeisegelten, hatte einer der Matrosen mit der Arbeit aufgehört und blickte auf diese Stelle hinaus. Er schien gefesselt von dem Anblick, doch hat noch nicht einmal sein Anführer ihm einen Klaps verpasst, damit er weitermacht. Stattdessen ließen ihn die anderen einfach sein. Ich wollte ihn fragen, was los sei, doch nahm mich die Magaderin beiseite und erklärte mir, dass wir gerade an der Ruhestätte der heiligen Insel vorbeifuhren, wo Or’akon unter dem Meer liegt. Der Matrose war Berbkar und erfüllte seine Erbpflicht dem großen Geist gegenüber, indem er ihm seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken schenkte. Doch schlich sich in jenem Moment der nördliche Schakal an uns vorbei, um den Jungen zur Rede zu stellen. Die Warnung, die in den Augen des finsteren Berbkars blitzte, prallte an ihm ab. Einen Moment lang schien es, als würden Mann und Schakal kämpfen, doch löste ein Ruf des Rakhshikers den gefährlichen Moment auf. Der lachende Hüne stand auf einmal zwischen den beiden und fragte den Nordling irgendetwas Belangloses. Während er so abgelenkt war, zerrten zwei Matrosinnen den Berbkar weg. Eine hässliche Sache. Verstehen diese nördlichen Schakale gar nichts davon, dass man den großen Geistern Respekt zollt? Auch wenn Or’akon nie ein Freund meines Stammes war, so ist der Umgang mit den Geistern die Sache jedes Einzelnen. Kein Fremder hat das Recht, sich darin einzumischen. Jetzt hat zum Glück dieser Aasfresser sein Gold eingesammelt und ist fort.
Sechsundzwanzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Die Mannschaft scheint viel glücklicher jetzt. Der Rakhshiker hat angekündigt, dass wir an den Inseln von Marmara zwischenhalten werden. Diese sind jetzt in Sicht, was für viel Freude sorgte. Meine Bedenken zu diesen Inseln, wo seltsame Tiermenschen hausen sollen, erklärte er für grundlos. Ich muss in dieser Sache seiner Erfahrung folgen. Sicherlich weiß er, wo man anlegen muss, um nicht von Affenkriegern angefallen zu werden.
Später
Nun wird mir klar, warum die Mannschaft so glücklich war. In einer versteckten Bucht haben wir hier angelegt, wo es ein kleines, geheimes Küstendorf gibt. So weit scheinen die Nordlinge noch nicht vorgedrungen zu sein. Diese Marmarer sind mir fremdartiger als selbst der gewitzte Swelu-Bordjunge, aber sie sind mir bedeutend sympathischer als der Nordlingschakal es war. Hier wird der Handel betrieben, den die Kaiserschergen nicht gierig wegfressen. Vor allem unsere begabten Matrosen und Matrosinnen, der Lakshader Schamane und sein Swelu-Gehilfe vorneweg, sind hier gefordert. Sie tauschen ihre Dienste gegen offensichtlich vom Norden geplünderte Ware, womit sie sich wieder das holen, was ihnen die Nordlinge stehlen. Das Lachen des Rakhshikers wirkt heute weniger gezwungen. Ich kann das nachempfinden.
Zweiunddreißigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Heute sind wir in Süd-Terén angekommen. Ich habe meine Landsleute verabschiedet. Seltsam, wie schnell sogar die sonderbaren Swelu zu meinen Landsleuten werden, wenn ich von so vielen umgeben bin, die noch viel sonderbarer sind. Ich habe als erstes ein paar Steine verkauft, um von dieser nördlichen Währung etwas zu bekommen, und dann suchte ich nach einer Unterkunft. Die Leute schauen mich an, als wäre ich ein exotisches Tier, aber selbst wimmeln sie wie Insekten. Es gibt hier Menschen, offenbar zu schwach zum Arbeiten und zu nichts zu gebrauchen, die in den Zwischenräumen der Häuser liegen und den Weg versperren. Sie tun gar nichts, schauen die vorbeigehenden Menschen nur ekelerregend an, und diese geben ihnen Geld. Ich dachte zuerst, diese faulen Zecken würden zumindest Wissen oder vielleicht Unterhaltung dafür tauschen, aber die Menschen, die ihnen was geben, scheinen jedes Gespräch abzulehnen und möglichst schnell weiter zu laufen. Ich will nicht vorschnell urteilen, denn vielleicht erschließt sich nur meinen fremden Augen der Nutzen dieser Leute nicht, aber bis jetzt muss ich sagen – diese Nordlinge sind keine Schakale, sondern etwas viel Geringeres. Flöhe, vielleicht, die Stärkere befallen und sich an ihrem Blut laben. Und zahlreich wie Flöhe auch. So viele Steinhäuser, Holzhäuser – und so alte! Anstatt, dass man weiterzieht, wenn die Hütte nicht mehr taugt, und Platz für etwas Neues lässt, klammert man sich in diesem seltsamen Süd-Terén an derart schäbige Behausungen, dass ich dort noch nicht mal einen Hund wohnen ließe. Diese Pest an Menschen kann nur existieren, weil sie sich so eng zusammenschließen und alles teilen. Ekelhaft.
Ich fand in einer Gegend nahe dem Wasser eine Behausung. Ich bezahlte den Mann für seine Gastfreundschaft mit Geld, nach festen Preisen – seltsam, aber nicht ganz dumm. Würde ich ihn kennen, müssten wir keinen Preis aushandeln, aber er ist fremd, also gibt mir diese Liste von ihm Sicherheit. Das ist wohl nötig bei der Zahl an Menschen hier, wenn man nicht mit jedem Gast sprechen kann. Er verlangt mehr für Südländer, aber das wundert mich nicht. Sie sind die Stärkeren und nutzen das aus. Das Essen ist auch seltsam. Man gab mir eine Suppe mit Gemüse, aber auch etwas Fleisch, angenehm warm, aber zu salzig, und dann eine Scheibe Fleisch mit einer Art festem Brot. Man reichte mir ein Messer, aber auch ein Stück Metall mit mehreren Spitzen. Andere benutzen das, um ihre Nahrung anzugreifen und barbarisch zu fixieren. Es gab keine Schüssel mit sauberem Wasser, um meine Hände zu reinigen, also versuchte ich, es ihnen gleich zu tun. Es ist sehr ungewohnt, so zu essen. Ich kann nicht verstehen, warum man das tun würde – vor allem nicht, wenn man das Brot dann doch in die Hand nimmt. Aber sie haben hier auch delikate Speisen, die ich nicht kannte. Nach dem Fleisch und Brot gab es noch ein anderes Brot, in dem Früchte drin waren, aber noch feucht – durch welche Kunst, ist mir nicht klar. Das Brot selbst war süß ebenso wie die Früchte, und darauf kam eine dickliche Milch. Diese Schakale – nein, diese Flöhe! – sind anscheinend nicht ganz nutzlos.
Vierundvierzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Meine Reise hat mich nach Nord-Terén geführt. Offenbar hatte ich noch nicht verstanden, wie sehr sich diese Nordflöhe von richtigen Menschen unterscheiden. Die Blicke, die ich hier ernte, sind nicht mehr die, die ein Wüstenlöwe von Hyänen erwartet, sondern erinnern mich mehr daran, wie man einen Skorpion anschaut, der sich unvermittelt in die Bettrolle eingenistet hat. Für sie bin ich widerlich, etwas, was weniger wert ist wie ein Mensch. Nun gut, vielleicht würde ich auch so schauen, wenn wir sie bei Marisen in den Staub gezwungen hätten und nicht andersherum. Aber sie brauchen gar nicht zu glauben, dass ich mich davon beeindrucken lasse. Mögen sie nur schauen! Ich bin besser als jeder einzelne von ihnen.
Später
Wie es sich herausstellt, könnte ich sogar sagen, ich bin besser als vier von ihnen. Wie schrieb ich vorhin? Ein Wüstenlöwe unter Hyänen? Hyänen, das ist eine passende Bezeichnung für die, denen ich heute begegnete. Ich hatte mich von einer Bibliothek entfernt, wo ich den Tag über ihre Geschichtsschreibung untersucht hatte, als mich eine junge Dame ansprach. Sie sah mich an, wie man einen Hund anschaut, der zu alt ist, um nützlich zu sein, den man aber seiner Elendigkeit wegen nicht aussetzen möchte. Sie sprach davon, wie schwer es sein müsse, als Fremder in dieser Stadt eine gute Unterkunft zu finden, und dass sie mir eine solche anbieten könnte. Ich verstehe diese Nordhyänen noch nicht besonders gut, aber ich bin zumindest sicher, eine Art Verheißung war auch in ihren Augen. Ich verstand das als Gelegenheit, mehr über mein Feind zu lernen, denn ihrer Lust glaubte ich keinen Moment. So nickte ich und stellte mich etwas schwächer, als ich bin, und sie führte mich zu einem dreckigen kleinen Schuppen. Sie bat mich, draußen zu warten, denn sie wollte ihrem Bruder sagen, dass ein Gast da sei.
Ich konnte drinnen hören, wie sich viele Menschen bewegten – zu viele, als dass sie in einem so kleinen Raum dauerhaft leben könnten (oder unterschätze ich die Verkommenheit dieses Landes immer noch?). Ich ahnte schon, worauf das hinauslaufen würde, also entschloss ich mich, die Initiative zu ergreifen. Ich rief hinein: „Bin ich denn dein Gast, schöne Frau?“, und sie antwortete: „Aber natürlich!“. Ich war überrascht und fragte mich kurz, ob ich mich doch getäuscht hatte, doch entschied ich, dass ich für jede Perfidität gewappnet sein musste. So warf ich die Tür auf und sprach: „Dann trete ich ein und erfreue mich der Gastfreundschaft. Wisst, dass ich ein wahrer Sohn der Asyuth’jiran bin, ein Kind des ausgedörrten Steins und der schwelenden Lüfte!“
Diese dummen Hyänen. Als ich die Schwelle übertrat, fielen sie mich von allen Seiten an. Vier waren sie, und sie hatten Messer und Heimtücke und den Rausch des nahenden Sieges auf ihrer Seite. Zwei schlitzte ich auf, einer rannte davon und das Mädchen, das mich locken hatte wollen, erlag auf ihrer Pforte dem unstillbaren Durst meiner Heimat. Ich verstehe nicht, was für ein wahnsinniger Geist diese Vier geritten hat. Sie sahen doch, dass ich bewaffnet war und die Haltung eines Kriegers hatte, und ich warnte sie sogar, dass ich ein mächtiger Djervaash bin, der die Hitze und Härte meines Ahnen besitzt. Dennoch griffen sie mich an, ausgerechnet als Gast! Wissen diese Hyänen gar nichts? Einer solchen Truppe hätte ich allein für ihren Schneid Gnade gewährt, hätten sie mich auf der Straße angefallen, aber als Gastverräter mussten sie natürlich sterben! Sind die heiligen Pflichten eines Gastgebers für diesen Abschaum bedeutungslos?
Und noch schlimmer, man befragte mich danach noch! Ein paar der Kämpfer dieses seltsamen Stadtstammes kamen zu meiner Unterkunft, nachdem ich von dort gegangen war, und versuchten mir zu drohen. Ich weiß, dass es töricht ist, sich mit einem Stamm mitten in seinem Gebiet anzulegen, also blieb ich höflich. Sie standen um mich herum mit ihrem stinkenden Odem und gaben mir zu verstehen, dass mein Leben ebenso wenig von Bedeutung sei wie das meiner Opfer. Ich glaube, sie wollten mich einschüchtern. Sie schienen aber gleichzeitig froh zu sein, dass ich die Hyänen getötet hatte, auch wenn sie mich es nicht merken lassen wollten. Wahnsinn türmt sich über Wahnsinn – wenn ein Stamm nicht will, dass auf seinem Boden gekämpft wird, dann muss er das durchsetzen! Wenn mich Hyänen anfallen, soll ich es einfach geschehen lassen? Haben diese Nordlinge nicht die Stärke, das eigene Gebiet von solchem Abschaum sauber zu halten? Dann fragten sie mich noch, was ich geraubt hätte! Ich! Von einem solchen Drecksloch! Was würde mich denn von diesem schmutzigen Tand interessieren! Als klar wurde, dass ich nichts genommen hatte, waren sie verwirrt. Sie entschieden, mich „laufen zu lassen“, da ich ja doch „eine Wohltat“ vollbracht hatte, aber ich glaube, sie waren einfach überfordert.
Ich sah sie jedoch in Richtung dieser sonderbaren Kirche laufen. Ich werde noch diese Nacht weiterreisen. Die Priester des Nordens mit ihren kalten Augen sind mir nicht geheuer. Ich möchte nicht am eigenen Leib erfahren, ob sie wirklich die Gabe meines Ahnen mit einem Blick lähmen können, wie man es in meiner Heimat munkelte. Zwar bin ich in meinem Stamm der wahrscheinlich stärkste Djervaash, die Kräfte dieser Priester sind jedoch unbekannt und könnten mir gewachsen sein. Offenbar muss ich beschwichtigen und den Schwachen mimen, wenn ich hier nicht auffallen will. Noch nicht einmal sich verteidigen darf ein stolzer Mensch hier! Vielleicht werde ich meine Wut später besänftigen, indem ich für den Weg ein paar der runden, teigigen Kugeln mitnehme, die hier verkauft werden. Sie sollen mit süßem Früchtemus gefüllt sein. Zumindest das lasse ich mir nicht nehmen.
Achtundfünfzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Aus Nord-Terén bin ich nun in das Herzland des Feindes gewechselt, nach Arvenn. Die Kaiserstadt will ich zunächst meiden, denn dort dürfte die größte Gefahr für mich sein. Wenn die Priester dieser feindseligen Götter mir etwas anhaben können, dann dort, im Mittelpunkt ihrer Macht. Allmählich gewöhne ich mich zumindest im Ansatz an dieses Land. Ich habe gelernt, wie ich mich bewegen muss, damit ich den Erwartungen der Nordländer entspreche. Sie erwarten von einem Sohn des Südens keinen stolzen Gang, keine direkten Blicke. Ich habe es für nützlich befunden, mich in einen Schleier der Verdrossenheit zu hüllen. Keiner fragt mich, was ich hier soll, weil kaum einer mit mir sprechen will. Aber manchmal kann man es nutzen, dass alle einen übersehen wollen.
So konnte ich mich in den äußersten Städten Teréns ungestört von der Wissensbreite der Nordlinge überzeugen. In ihren Bibliotheken haben sie große Ansammlungen an Wissen, Kunde von allerlei Berufen und Handwerken. Zwar fehlt den Schreibern oft die nötige Erfahrung mit ihrer Materie, aber sie machen es durch die Masse an Überlegungen manchmal wieder wett. Ich las in einem Manual der Wildnis davon, was sie hier glauben, wie man in einer Wüste wie die meiner Heimat überlebt. Zu Beginn erwartete ich nur, mich über die törichten Ideen zu amüsieren, aber unter diesen waren auch viele sinnvolle Ansätze. Ich muss an einen Satz denken, den ein alter Mann aus Terén mir nachrief, als er sah, dass ich aus einer Bibliothek kam. Er meinte, dass auch ein blindes Huhn bisweilen ein Korn findet. Jetzt, wo ich diese Hühner hier in den nördlichen Dörfern etwas beobachten konnte, sehe ich, wie treffend er seine eigene Gattung beschrieben hat. Sie gackern und hacken aneinander herum, aber kein Huhn wagt es, seinen Anführer anzupicken. Sie sind hörig, und sie sind viele, und sie suchen so lange im Dreck, bis sie zwischendrin ein Stück Gold finden.
Aber sie sind blind dafür, dass ihre Pickerei nur innerhalb eines Hofs stattfindet, und glauben deswegen, dass die ganze Welt umzäunt und sicher sein muss. Und so beginne ich auch langsam, ihre Gesellschaft zu verstehen. Sie sind so viele, weil sie versuchen, jeden am Leben zu halten. Die Krüppel und die Alten und die Armen – selbst wenn diese Menschen keine persönlichen Bande zu den Schwachen haben, machen sie es ihnen leicht, zu überleben. Sie wollen viele sein, damit ihre Masse ihre Schwäche ausgleicht, aber es ist der gleiche Fehler wie der des Mannes, der immerzu frisst, damit er für den Kampf groß und stark wird, auch über das Maß hinaus, was ihm einen bloßen Überlebensvorteil in harten Zeiten gewährt. Die Schwäche verschwindet zwar scheinbar, aber sie hat sich nur verlagert. Der fette Krieger ist leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, und die Schwachen hier könnten leicht als Last ihre Gesellschaft in die Knie zwingen.
Nicht nur das – genau wie die Beine des Fettleibigen leidet ihre Basis unter ihrer Gier, sich auszubreiten. Die Felder, die ich hier sah, waren überaus groß – viel zu groß für die wenigen Bauern, die dort arbeiten. Sie verlangen dem Land alles ab, was es herzugeben vermag, und das Land wird diese Strapazen auf Dauer heimzahlen. Sie meinen, dass sie so viel brauchen, um zu überleben, aber das stimmt nicht. Sie brauchen nur so viel, weil sie wollen, dass ALLE überleben.
Auch ihre Götter verkörpern das gleiche Gedankengut. Jeder, der hier betet, betet letztendlich um Schutz. Ob es nun Schutz vor dem Wetter, vor Krankheit, oder vor den Ambitionen anderer Menschen ist, immer ist es Schutz. Wenn der Gelehrte sich Erfolg bei seiner Forschung wünscht, meint er wirklich, dass sein Gott ihn vor all den Dingen, die ihn herunterziehen und ablenken könnten, verteidigen soll. Selbst der Kriegergott, den sie hier haben, ist in dieser Hinsicht ein Heuchler. Seine Lektionen stehen in den Büchern: durch Kampf soll man stärker werden, besser werden, und wachsen. Wo aber ist die Reinigung? Wo ist das Abstreifen des toten Holzes? Die Lehre ist einseitig, denn niemals heißt es, dass die Schwachen dabei auch getilgt werden sollen. So hält sich jeder für stark und meint, dass er derjenige ist, der durch die Konflikte gestählt werden soll, aber das ist eine Lüge. Diese Götter schenken allen ihre Gunst, und nichts erwarten sie im Gegenzug außer Freundschaft, so heißt es. Aber so belohnen sie Stärke wie Schwäche, und so wird aus dem einen das andere.
Schön ist dieses Land, schön anzusehen. Die Luft ist voll von pflanzlichen Düften, und wo man nur hinsieht wächst das Leben. Doch Vorsicht, ihr gackernden Hühner, ihr strotzenden Hähne. Ihr baut und baut, wie es euer Baumeister befiehlt, aber nie lasst ihr etwas einstürzen, dessen Zeit gekommen ist. Nicht ewig können eure Felder währen, ehe sie versanden. Nicht ewig können eure Villen strahlen, ehe sie zerfallen. Die Reinheit eurer Götter ist die Reinheit eines weißen Knochens, der in der Sonne auf dem heißen Sand blinkt. Sie ist spröde, und auch sie wird irgendwann zerspringen.
Siebzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Regen war für mich immer ein Geschenk, aber langsam verlerne ich, ihn zu schätzen. Diese nördlichsten Gebiete des Landes sind unangenehm nass. Auch das Reisen durch Sümpfe hab ich hassen gelernt. Man ist immerzu feucht, aber trägt nicht den Geruch des ehrlichen Schweißes mit sich, sondern widerlich süßen Verwesungsgestank. Der Schlamm beschichtet die Kleider und lässt sie steif werden. Noch dazu ist es kalt geworden. Der Wind saugt die Wärme aus meinen Knochen.
Hier im fernen Norden ergeht es manchen Leuten wie uns. Die Bewohner dieses Landes werden zum Teil auch von den Kaiserschergen geknechtet, aber so wie ich es vernommen habe, haben sie sich das selbst so ausgesucht. Sie luden ihn ein, um als Schutzherr über sie zu wachen, und das mit ähnlichem Effekt, wie wenn die Schafe, die sie hier oben so emsig hüten, einen Wolf als Hirten einsetzten. Solange er sich den Rachen vollschlagen kann, beschützt er sie in der Tat, aber wenn sein unersättlicher Magen wieder knurrt, nimmt er sie aus. Letztendlich werden sie alle seiner Gier erliegen. Die Berge hier im Norden, obgleich kalt und nass statt heiß und trocken, sind meinem Ahnen verwandt. Ihre Stimmen klingen wütend, wenn nachts der Wind auf sie einpeitscht. Ich hörte von Lawinen und Erdrutschen, die viele Opfer forderten, und frage mich, ob die Schafhirten hier oben nicht sehen können, dass das die Rache der Keal ist. Sie fegen die Parasiten hinweg, die sie plündern wollen.
Aber was würden denn die Hirten tun, selbst wenn sie die wütenden Stimmen der Berge hören könnten? Ihre arvennischen Schutzherren sind es, die den Bergbau anleiten, nicht sie selbst. Man könnte Mitgefühl empfinden, hätten sie nicht so viel mit ihren wolligen Mündeln gemein. Aber diese Nordländer, die sich erst so jüngst den Säulen vor die Füße warfen, sind jetzt schon die frommsten Gottesdiener, die ich bisher gesehen habe. Vielleicht liegt es an dem Wesen des Schafs. Meine Beobachtungen zeigen, dass Schafe eher dumme Tiere sind, die dem Hirten blind folgen. Jeglicher Versuch, selbstständig zu werden, wird durch den Hund unterbunden. So auch die, die die Schafe hüten: sie blöken den Priestern alles nach und lassen sich von den kläglichen kaiserlichen Garnisonen klein halten.
Doch sie sind nicht schwach hier oben, nicht von ihrem Wesen. Das sieht man alleine schon an ihrer Nahrung. Mein Volk isst, was wir zum Überleben brauchen, und macht daraus eine Tugend – ich vermisse die Heuschrecken, die wir rösten und dann süßen! Hier lassen die Leute Fisch ein Jahr lang reifen, bevor sie ihn essen, und selbst die Hirten nutzen die Eingeweide ihrer Schafe, um daraus erstaunlich leckere Gerichte zu machen. Wer noch nicht so weich ist, dass er nur die besten Teile des Tiers verarbeitet, für den gibt es noch Hoffnung, auch wenn ich zugeben muss, dass es mir auch die kleinen gebackenen ‚Ziegelsteine‘ aus Butter, Mehl und Zucker angetan haben.
Einen Vorteil hat es jedoch, dass die Leute hier so schwach und gläubig sind: ich gewinne zunehmend die Sicherheit, dass wenn es Priester der Götter gibt, die meine Gabe unterdrücken können, sie in jedem Fall eine seltene Gattung sind. Die meisten dieser frommen Schafe sind nicht zu mehr zu gebrauchen als zum Blöken.
Neunundachtzigster Tag des Herbstes im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Ich bin nun in die Kaiserstadt Arvenns, Korus, eingekehrt, noch vor Wintereinbruch – auch wenn man es bei dieser miserablen Kälte nicht glauben würde. Ich hatte erwartet, von der Größe der Stadt und der Dichte der Nordlinge hier überwältigt zu werden, aber ich merke, wie meine Reiseerfahrung mich nach und nach abhärtet. Diese Stadt IST groß, und prunkvoll dazu, aber meine Augen sehen immer nur einen Ausschnitt davon. Das bloße Wissen, dass ich lange laufen müsste, um an die Stadtgrenze zu kommen, reicht nicht, um mich sprachlos zu machen.
Ich erkenne durchaus die Schönheit dieser nördlichen Architektur an, vor allem hier, wo sich der alte Stil des arvennischen Reiches und die neuartigeren Züge des Säulenpaktes mischen. Meine Zeit in den Bibliotheken der bisherigen Städte hat mir eine gewisse Einsicht gegeben, sodass ich beginne, die alten und neuen Gebäude auseinanderhalten zu können, auch wenn beide gut gepflegt werden. Hier, im Herzen der nördlichen Macht, hier möchten die Adligen zeigen, wie perfekt die Welt ist, die sie erschaffen wollen.
Aber hier, wo so viele Leute aufeinander kommen, gerade hier sind die Spalten und Sprünge zu sehen. In den Seitengassen dieser Stadt, den kleinen Straßen, wo die unwichtigen Leute wohnen, da sieht man sie. Die Bettler sind hier genauso zahlreich wie anderswo, aber sie werden besser versteckt. Die ganze Stadt hat die seltsame, wimmelnde Ordnung eines Ameisenhaufens, nur gibt es hier mehr als eine Königin. Die Viertel und Wege sind klar getrennt – auf dieser Straße dürfen nur feine Damen und ihre milchgesichtigen Begleiter gehen, auf jener darf gehandelt werden, aber nicht gebettelt, und in diesem Viertel läuft man wachen Auges mit der Hand an dem Messer. Doch diese Ordnung hat sich nicht natürlich ergeben, indem Leute aneinanderprallten, bis die Grenzen klar waren, sondern sie wird von den Soldaten dieser Stadt aufgezwungen. Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie irgendwelchen Adeligen verpflichtet sind oder ob es wieder etwas Hirnrissiges ist. Vielleicht haben sie der Stadt selbst die Loyalität geschworen, so dumm das klingen mag. Zuzutrauen wäre es diesem Volk.
Aber selbst die Gesetzlosen dieser Stadt, die, denen man am ehesten zutrauen würde, dass sie sich nicht von der Ordnung der Obrigkeit binden lassen würden, selbst sie sind auch nur Ameisen. Ihre Verbrechen bleiben klein. Sie trauen sich nicht, etwas gegen ihre Herren zu unternehmen, obwohl sie dazu mit Sicherheit die Fähigkeit hätten. Ihre Welt scheint klare Grenzen zu haben, die sie selbst nicht mal als solche wahrnehmen – für sie ist es selbstverständlich, dass man sich nicht mit den Priestern oder den Adeligen anlegt, genau wie für die Bauern. Diese schlafende Masse – wenn sie sich erheben würden, es wäre wie ein Kamel, was sich einmal erhebt und schüttelt – und die Fliegen würden abfallen. Aber sie werden sich nie erheben.
Die Adeligen sehen sich auch gefangen, obwohl ihr Käfig größer und schöner ist. Ich habe schon mehrfach beobachtet, wie sich Edelmänner in die Freudenhäuser und Tavernen der unteren Viertel geschlichen haben. Sie sind die Herrscher hier, ihnen obliegt eigentlich die Macht, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Aber sie verhüllen sich und zahlen exorbitante Summen dafür, dass man sie nicht erkennt. Sie machen das gut – ich hätte sie auch nicht erkannt, wäre ich einer kleinen Gruppe nicht mal gefolgt, als sie sich am Ende ihrer Zeche nach Hause begaben. Der nervöse, fiebrige Eifer, den ich in jener Nacht bei ihrer Feierei beobachtete, zeugte nur zu deutlich davon, dass sie große Angst litten, entdeckt zu werden. Wie Ameisen – wenn einer aus der Reihe fällt, beißen ihn die anderen zu Tode, aus Angst, sein seltsames Verhalten könnte Anzeichen eines Parasits sein.
Und welchen Parasiten fürchten sie hier? Die falschen Gedanken, natürlich. Die Priester hier sind am lautesten von allen, denen ich bisher begegnet bin. Hier wird aktiv gegen die Geister gewettert, als wären sie Schreckgestalten in der Nacht, die arme Nordlingslarven klauen. Ohne Sinn und Verstand sprechen die Priester von Dingen, die sie augenscheinlich kaum verstehen. Sturm und Dürre schickten die Geister und jede andere Art von Naturstrafe, unerwähnt bleiben jedoch der sanfte Regen und die wohlige Sonne. Diese kommen natürlich nur daher, dass die Götter dafür sorgen. Wer sollte denn meinen, dass diese Dinge genauso Aspekte der großen Geister sind? Aber für diese Priester wäre alleine die Frage schon falsches Gedankengut, Grund zur Korrektion.
Ihre Amphoren sind auch ein bitterer Scherz. Die einzige, die auch nur ein Deut taugt, ist die dritte – da wo sie ihre wahnsinnigen und toten Götter hineinsetzen, da ist auch einer, der zumindest im Ansatz etwas von Gleichgewicht versteht. Kein Wunder also, dass sie diesem Marduk das Mundwerk töten wollen, dass seine Anhänger verpönt sind und seine Ideen falsch. Den einzigen anderen, der was taugen könnte, den vergessen sie mindestens die Hälfte der Zeit. Der Wanderer, der Einsiedler, den erkenne ich aus Geschichten meiner Heimat wieder. Er scheint so etwas wie ein großer Urven gewesen zu sein, aber ihn erwähnen sie nur halbherzig, bevor sie sich wieder ihrem großen Baumeister und seinen kleineren Geschwistern widmen.
Ja, je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir das Bild der Ameise für diese Leute. Sie sind emsig und produktiv, leben und scheiden in geordneten Bahnen dahin. Sie erreichen durch ihre Masse so viel, auch wenn jeder einzelne erbärmlich sein mag. Aber wer schon einmal die Machenschaften eines Ameisenhügels genauer beobachtet hat, weiß auch, welche widerlichen Gepflogenheiten sie bedienen, um ihre Türme zu bauen. Diese Menschen haben auch Widerliches an sich. Ihre Prinzipien sind die der Unfreiheit, der Ketten, die man sich selbst anlegt. Sie haben Maden unter sich, die nur Ballast für sie bilden, und kümmern sich um diese, als hätten sie keine Alternative.
Man könnte sie respektieren, von der Ferne, würden sie einem nur nicht die Ernte zerfressen. Aber diese scheinbar so unbedeutenden Ameisen bauen Waffen, bilden Heere, unterwerfen ganze Völker. Die Breite ihres Wissens, worüber ich schon einmal geschrieben habe, war nur das erste Palmenblatt der Oase. Sie haben Bautechniken, die wir nicht kennen. In den letzten Wochen ist mir im Ansatz klargeworden, wie viel dazugehört, so viele Leute zu versorgen. Sie können Wasser, Nahrung und Abfall auf Arten transportieren, die wir nie für nötig befunden haben. Die große Gefahr ihrer Gesellschaft liegt darin, dass nur einer von ihnen einen Weg finden muss, etwas zu erreichen, damit alle diesen Weg lernen können.
Die Badehäuser, zum Beispiel. Sie sind eine geeignete Art, sauber zu bleiben, wenn man so viel Wasser hat und nicht genug Sand. Sie verlangen Wasser in Unmengen, so viel, dass das Wasser eine eigene Straße hat, die über den normalen Straßen verläuft, aus Stein gebaut. Doch ohne diese Häuser würden die Armen vermehrt den Krankheiten erliegen, die sie in ihrem eigenen Dreck ausbrüten. Sie sind ein elementarer Bestandteil dieser Gesellschaft. Nicht nur das, sie sind auch angenehm zu nutzen! Mir war das Gefühl, in Wasser getränkt zu sein, nur als Abkühlung bekannt und vor allem nur unregelmäßig. In den Tagen, die ich hier verbracht habe, schäme ich mich fast zu schreiben, dass ich mehr oder weniger jeden Tag einige Zeit im warmen Wasser dazu benutzte, verschiedene Reinigungsarten auszuprobieren und mit den Parfüms und Seifen zu experimentieren.
Auch in Sachen Genuss sind sie uns in manchen Dingen einiges voraus. Eine Woche lang habe ich jeden Tag von einem anderen Kanditor neue Köstlichkeiten probiert, um nachzuvollziehen, ob solche Delikatessen mit der Zeit ihren Reiz verlieren. So viel Zucker, aber so kunstvoll zubereitet! Kaum verwunderlich, dass hier weniger Leute verhungern, denn man kann bei so süßen Zwischenmahlzeiten immer Energie aufnehmen, um gehaltvollere ergänzende Nahrung zu suchen. Ich stelle mit Schrecken fest, dass ich manche Dinge vermissen werde, wenn meine Reise zu Ende ist.
Und darin liegt wahrscheinlich ihre größte Perfidität, ihre mächtigste Perversion. So viel von dem, was sie machen, fühlt sich angenehm an. Ich habe als Versuch, Informationen zu sammeln, schon mehreren Bettlern etwas geschenkt. Es fühlte sich gut an, ihr Lächeln zu sehen – natürlich, denn Glück ist ansteckend. Aber wer so sein Glück erkauft wie diese Ameisen, der kauft sich eine leere Hülle. Es ist eine hohle Freude, für die man nicht gelitten hat, und ein karges Leben, was keine wirkliche Not kennt. Wer die Verantwortung für sein eigenes Leben nie gefühlt hat, der kann nicht wissen, was dieses Leben wirklich ausmacht. Das ist es, was den Bettlern geraubt wird, jedes Mal, wenn jemand ihnen einen Kanten Brot schenkt. Das ist es, was den Milchbuben fehlt, die sich mit süßem Wein und noch süßeren Köstlichkeiten den Bauch vollschlagen. Sie kennen nur die oberflächliche Wonne der Sinne, der einfachen Empfindungen. Aber das Gefühl, sein eigener Herr, den eigenen Fehlern ausgeliefert zu sein, diese tiefere Wahrheit kennen sie nicht, und erst diese gibt den oberflächlichen Regungen irgendeine wahre Bedeutung.
Es ist verführerisch, sich diesem leichten Leben hinzugeben, darauf zu vertrauen, dass andere sich um einen sorgen werden. Aber es wäre nicht anders, als sich die Augen auszustechen, die Zunge zu verbrennen, die Ohren und Nase abzuschneiden. Man beraubt sich nur willentlich seiner Sinne.
Achtzehnter Tag des Winters im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Ich gedachte nicht, jemals so etwas wie diesen Schnee zu sehen, von dem man im Süden sprach – halbfestes Wasser, was aus dem Himmel fällt. Obwohl es elendig kalt ist und das Reisen erschwert, lädt es in der Hand zu allerlei Unsinn ein. Ich sah, wie manche Kinder sich darin wälzten und damit umherwarfen. Es war lange her, dass ich so unbeschwert wie ein Kind gespielt hatte, also entledigte ich mich vorübergehend meiner Rolle als niedergeschlagener Südling und warf mich mit ihnen ins Gefecht. Anfangs stutzten sie, doch die Älteren nahmen meine Herausforderung schnell an. Durchnässt war ich sowieso schon, also machten mir meine Blessuren in diesem gespielten Kampf nichts weiter aus. Ich freue mich, dass zumindest diesen Gassenkindern meine Herkunft egal zu sein schien. Vielleicht sind die Kinder hier noch nicht so verdorben, dass sie nicht etwas vom echten Leben kosten könnten, sich darin verbeißen könnten und ihren Anteil abreißen!
In Aravell fühle ich mich insgesamt etwas wohler als in Korus zuvor. Vielleicht ist es nur der Kontrast zu der Hauptstadt, aber die Menschen hier scheinen bodenständiger zu sein, ehrlicher, weniger starr. Es könnte auch die Nähe zum Meer sein. Leute, deren Leben so eng mit einer so wankelmütigen und gefährlichen Landschaft verwoben ist, können gar nicht so frivol sein, wie es Leuten in besserer Umgebung möglich wird. Diese Menschen feiern hier noch mit Charakter, denn ihre Freude ist geerdet in einem soliden Respekt für das Leben. Das gilt, auch wenn ihnen augenscheinlich mehr danach ist, das Meer zu knechten und zu meistern, als damit in Einklang zu leben.
Doch hier ist mir wieder eine neue Seltsamkeit vorgeführt worden. Die Menschen im Norden sind merkwürdig in ihrem Umgang mit Geschlecht. Männer dürfen wie es scheint nicht Kinder pflegen oder mit Stoff arbeiten, Frauen müssen sich in Gesellschaft zurückhalten. Ich gebe zu, ich dachte zuerst, das sei einfach eine oberflächliche Eigenart hier, aber es scheint tiefere Wurzeln zu haben. Ein Mann, der etwas macht, was Männer nicht sollen, wird nicht akzeptiert, sondern man hält ihn für weniger als einen Menschen. Ähnlich ist es mit Frauen, die Krieger werden wollen oder derlei. Anstatt dass man als Mensch die volle Bandbreite des Lebens kosten darf, wie es sein sollte, muss man sich auf Mann oder Frau sein reduzieren. Als wäre ich weniger ein Krieger, wenn ich mich um die Kindererziehung kümmere! Die Armen und Außenseiter dieser Gesellschaft lassen sich freilich weniger von diesen Beschränkungen bedrücken, ernten aber eben dafür, dass sie ausgeschlossen bleiben.
Vorgeführt wurde mir das von einer jungen Frau, die in einer der Herbergen arbeitete, in denen ich unterkam. Sie war zierlich, aber voller Leben, und gewitzt obendrein. Schön anzusehen fand ich sie auch, und sie mich offenbar ebenso. Diese Reise war in vielerlei Hinsicht einsam, und ich hätte mich gefreut, in Zweisamkeit einfache menschliche Nähe zu genießen, ohne mich verstellen zu müssen. Doch als ich auf ihre scheuen Blicke mit einem Lob ihrer flinken Zunge oder ihrer schönen Augen reagierte, wandte sie sich immerzu schnell ab und versuchte, zu entfliehen. Ich wusste hiermit nichts anzufangen, denn ich zeigte nur ein ernstes Interesse daran, mit ihr mehr Zeit zu verbringen. Sie jedoch war zunächst warm, dann wieder kalt, dann wieder warm, bis ich gar nicht mehr wusste, wie mir war. Ich hatte mit der Situation schon abgeschlossen und mich damit abgefunden, es bei freundlichem Geplänkel zu belassen, doch dann sprach sie mich an, als ich austreten wollte und gerade niemand da war. Sie sagte mir, wo sie nächtigte, und bat mich, sie zu besuchen.
Fast hätte ich mich höflich verabschiedet und ihr Angebot zurückgewiesen, doch war in mir das Verlangen nach Kontakt und einer freundlichen Berührung gewachsen. Es ist schwierig für mich, so lange unter Fremden zu sein und keinen meiner Brüder und Schwester über lange Zeit zu sehen. Die hochtrabenden Umarmungen und vertrauten Gesten, die ich aus der Heimat von meinen engen Freunden und meiner Familie kannte, sind hier einer Umgebung gewichen, wo die Menschen versuchen, die zufällige Berührung meiner Hand beim Bezahlen zu meiden. Diese Frau schien eine angenehme Zeitgenossin zu sein und sie wich nicht vor mir zurück. Auch wenn sie keine enge Vertraute war oder werden konnte, ich fühlte mich an die Tage erinnert, wo unsere Karawane in den Muhazzar-Oasen auf andere traf. Zu den heißesten Sommertagen kamen wir zusammen und tauschten in der kühlen Nacht mit Menschen anderer Stämme Geschichten, Nachrichten und auch manchmal Zärtlichkeiten aus. Vielleicht könnte ich einen Hauch davon auch hier einfangen, in der kalten Dunkelheit des nördlichen Winters. So antwortete ich ihr höflich, dass ich sie gerne aufsuchen würde und ein kleines Geschenk mitbringen würde, was einer Frau ihrer Qualität angemessen wäre.
Das schien ihr zwar zu gefallen, doch trug sie mir danach verwirrenderweise auf, vor anderen Leuten keine solchen Sachen zu sagen. Ich selbst genieße es, wenn mir eine interessierte Frau oder ein interessierter Mann öffentlich Komplimente macht – wie fühlt man sich golden, wenn man durch das Interesse anderer glorreich wird, obgleich nur für einen Moment! Aber hier scheint es nur dann angemessen zu sein, so etwas zu tun, wenn man schon in einer öffentlichen Bindung ist (die es hier NUR auf Lebenszeit gibt!). Auch schärfte sie mir ein, dass man mir nicht folgen dürfe, dass niemand wissen dürfe, dass ich zu ihr komme. Ich dachte erst, sie würde sich schämen, mit einem Südländer gesehen zu werden, aber dem war nicht so. Jeder Mann hätte ihr Schande eingebracht, so erklärte sie, denn sie war die Tochter eines wohlhabenden Wirtes und damit von einem gewissen Stand. Sie könne sich nicht leisten, so mit Männer umzuspringen, wie es die „leichten Mädchen der Gassen“ tun. Es ist gar wunderlich, über welche Dinge sich die Leute hier Gedanken machen, auch über das Natürlichste der Welt!
Ich werde hier nicht festhalten, was zwischen uns geschah, denn das gehört nicht in diese Chronik meiner Feinde. Es sei nur gesagt, dass der Abschied bittersüß war wie die dunklen Kakaogebäcke, die ich mit ihr teilte. Ich musste sie beruhigen, dass keine Adelige im Süden auf mich wartete, die sich an ihr als meine Mätresse rächen wollen würde – seltsamer Gedanke! Sie schmeichelte mir, ich sei sicher ein Graf und vielleicht ein Prinz meines Volkes und würde eine ebenso wichtige Frau dort haben, die rachsüchtig wäre, doch glaube ich tat sie das nur, um mir eine Freude zu machen auf diese eigenartige nördliche Art. Selbst wenn – wer Versprechen mit einer einzelnen Person austauscht, lässt sich nicht auf andere ein, und wer kein Versprechen eingeholt hat, wird es anderen Gefährten und seinem Geliebten nicht übelnehmen, dass sie sich aneinander erfreuen. Diese Nordlinge verstehen unsere Gesellschaft genauso wenig, wie wir die ihre verstehen.
Ich werde jetzt meine letzte Mahlzeit an Land genießen, bevor es mit dem Schiff nach Zirdán geht. Inzwischen habe ich diese Gabel gemeistert, aber ich frage mich immer noch, warum – jeder schneidet die Teile seiner Mahlzeit einzeln und isst sie einzeln, anstatt die Geschmäcker miteinander zu vermischen, wie es sich gehört! Im Magen kommt sowieso alles zusammen, aber für diese Nordlinge haben selbst das Fleisch und das Gemüse jeweils eigene feste Plätze.
Später
Die kurze Zeit auf dem Schiff hat meinen Eindruck jäh verändert. Wo diese Leute anfangs bodenständig und angenehm schienen, sind sie jetzt auf einmal kalt und unmenschlich. Eine der Frauen entpuppte sich sogar als Priesterin, deren Gebote auf dem Wasser bindend sind wie Stahlfesseln. Es ist beunruhigend. Ich sah vorhin zu, wie im Wasser eine Gruppe großer Fische – Wale, vermute ich – einen noch größeren trieben und trieben, bis er ihnen endlich erlag und Blut das Meer verfärbte. Sie sprangen aus dem Wasser und ihre Augen waren schwarz und kannten keine Menschlichkeit. So fühlen sich auch diese Leute auf dem Meer an – jeder ordnet sein Selbst unter, um ein höheres Ziel zu erreichen, doch ist diese Unterordnung vom Wesen her schon grausam. Sie entfremdet diejenigen, die sie dulden. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht die Beute bin, die letztendlich erschöpft fällt. Ich bin froh, wenn ich wieder an Land bin.
Sechsundzwanzigster Tag des Winters im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Der Weg über das Meer war beeindruckend gefährlich in diesen Wintertagen, obwohl er so kurz war. Ich verstehe allmählich, wieso sich diese Menschen zu so einem furchterregenden Mechanismus zusammengeschlossen haben. Nein, nicht Menschen – Haifische, so hießen die großen Treibjäger, an die mich die Mannschaft erinnerte. Starr und kalt und schrecklich. Ihr Weg ist erfolgreich, ja, aber ich bin mir sicher, der große Rakhshiker und seine Mannschaft hätten das auch gemeistert, als Freunde und Gefährten, nicht als einheitliche Masse.
Ich werde hier nicht lange bleiben können, hier in Zirdán. Ich fühle mich, als wäre ich aus dem vor Haien kochenden Wasser in ein Wespennest geflohen. Die Menschen hier schauen mich feindselig an und handeln nur widerwillig mit mir. Erstaunlicherweise glaube ich, dass das nicht daran liegt, dass ich ein Südländer bin, sondern daran, dass ich allgemein ein Außenseiter bin. Ihre Dörfer und kleinen Städte sind allesamt mächtig befestigt, als würden sie jeden Moment einen Angriff erwarten, und es scheint hier kaum Leute zu geben, die nicht in irgendwelchen Scharmützeln mit Plünderern vom Meer Sippschaft verloren hätten. Solche Umstände machen die Menschen überall misstrauisch, aber hier ist es etwas Besonderes. Diese Wespen ernten nämlich Honig, und damit verweise ich nicht auf die Kandiskristalle, die hierzulande den Leuten den Odem reinigen.
Gold ist hier der Antrieb von allen Dingen. Es gibt Gold in den Bergen, Gold, was man abbauen und horten muss. Weiches, glänzendes, nutzloses Gold. Handelsgüter sollte man immer haben, denn kein Stamm alleine kann alles herstellen, was er braucht und will, aber diese übertriebene Gier danach ist mir neu. Was bringt einem denn Gold in solchen Mengen? Will man damit die Welt kaufen? In diesen Ländern gibt es ja genug, was man sich gönnen kann, und sicherlich ist die Suche nach dem Gold und der Kampf, es vor Räubern zu verteidigen, eine Art, das Leben wirklich zu erfahren. Aber diese Wespen sind so darauf fokussiert, dass sie dabei das Endziel aus den Augen verlieren. Egal, wie viel sie finden und nehmen, sie nutzen es nur als Ansporn, mehr zu suchen. Sie leben nicht im Moment und genießen das, was sie sich verdienen, sondern trachten selbst in dem Augenblick, wo die Belohnung verschlungen wird – der Braten, das Bier, die käufliche Frau – nur danach, wieder zurückzukehren und sich mehr zu verschaffen.
Dennoch kümmern sich auch hier die Leute um die Schwachen, hier, wo es am sinnlosesten ist, weil man um jeden Bissen bereit sein muss, zu kämpfen. Das kann nur funktionieren, wenn jeder genau das tut, was alle von ihm verlangen und erwarten. Wer aus seiner Rolle ausbricht, wird schlimmer geächtet als ein Ausländer. Wir Fremde wissen es ja nicht besser, aber aus den eigenen Reihen kann ein Querulant nicht geduldet werden. Da liegt das Zentrum des Problems. Die Wespen dieses Landes leben nur noch aus Angst. Sie haben sich in feste Reihen zusammengeschlossen, um ihre Nester zu verteidigen, und erlauben niemandem, ihre Ordnung zu brechen. Deswegen vergessen sie aber, was sie eigentlich verteidigen wollen. Die Ordnung und der Zwang werden zum Selbstzweck. Die Gründe für ihr Verhalten fallen weg, bis nur noch eine Leere da ist, wo einmal ein Lebenssinn war. Sie werden hart und zäh, aber sie kennen nichts anderes als ihre gesellschaftliche Pflicht. Und weil sie nichts anderes sehen, sind sie unglücklich, schrecklich unglücklich.
Ich glaube, dass dieses Zirdán vielleicht ein kleineres Abbild des großen Kaiserreichs ist. Die Säulenpaktler streben danach, alles in Ordnung zu bringen, ihre Umgebung zu meistern und zu unterwerfen. Sie organisieren sich dazu derart, dass diese Ziele erstaunlich effektiv erreicht werden, vergessen aber dabei, welchen Sinn die Ziele haben. Ursprünglich waren sie wohl wie wir, mit anderen Sitten, aber doch grundsätzlich ähnlich. Doch ihr Urven gedachte, sich über die natürliche Ordnung zu heben. So begann es wohl, dass sie versuchten, alles in die Ewigkeit währen zu lassen, anstatt sich am Beispiel der Geister zu orientieren und stetig ihre Unreinheiten abzustoßen. Es waren die letzten verzweifelten Schreie eines Ichs, was schon längst hätte sterben sollen, sich aber dagegen wehrte. Doch diese Schreie wurden zum Dogma, und dieses Dogma verlor den Sinn. Jetzt ist die gesamte Struktur der Nördlinge nichts anderes als ein leerer Kokon, an dem die Raupe immer weiter baut, obgleich sie vergessen hat, dass ihr eigentlich eine Verwandlung bevorstehen sollte.
Natürlich sind das nur meine Gedanken, keine Geschichtsschreibungen der Nördlinge selbst. Wahrscheinlich war es nicht so, wie ich es mir ausgemalt habe. Dennoch bin ich mir sicher, dass in meinen Ausführungen ein Kern Wahrheit steckt. Irgendetwas bringt die Nördlinge dazu, nach Unveränderlichkeit zu streben, obwohl sie nichts mehr an sich haben, was dieser Unveränderlichkeit würdig wäre. Aber nichts ist immerwährend. Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, sich auszuleeren und leer zu bleiben. Der Norden wird sich irgendwann selbst zerstören.
Ich schaue meine Aufzeichnungen an und seufze. Das Bild, was ich hier zeichne, ist einseitig. Es gibt hier auch mehr als genug vernünftige, respektable Menschen, die weder Floh noch Zecke, nicht Huhn, nicht Schaf und nicht Schakal sind, die menschlicher bleiben als Haifisch, Ameise und Wespe. Sie tun es aber ihrer Gesellschaft zum Trotze, nicht im Einklang damit. Sie SIND im Grunde immer noch wie wir im Süden, nur eben mit anderen Sitten. Sie wissen, was Leben heißt, aber fragen sich, warum sie es in ihren Landsleuten nicht erkennen. Und sie finden keine Antwort, weil sie die Stimmen der Geister nicht mehr hören, weil diejenigen, die diese Stimmen hören konnten, sie abtun oder zerstört worden sind oder den eigenen Sinnen nicht mehr trauen.
Deswegen blutet mein Herz für dieses Land.
Fünfunddreißigster Tag des Winters im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Ich werde meine Reise wohl vorzeitig beenden müssen. Hier in Everenn jedenfalls kann ich nicht bleiben. Meine Flucht hat mir etwas Zeit gekauft, aber ich ahne schon, dass man mir nachsetzt. Diese gestohlenen Momente werde ich nutzen, um meine Gedanken und Eindrücke aufzuschreiben, bevor sie verschwimmen, aber danach heißt es weg, schnell nach Süden. Ich habe mir hier auf eine Art Feinde gemacht, die alle anderen möglichen Pfade töricht erscheinen lassen.
Everenn war für mich auf dem ersten Blick von den ländlichen Gegenden in Arvenn kaum zu unterscheiden: kleine Dörfer, in denen die Leute von Viehzucht und Anbau leben, schläfrig und fern vom Trubel der Städte. Lediglich die Einzelheiten schienen anders: Sumpf und Moor statt Hügellandschaft, Schafe und Ziegen statt Kühe, Kartoffeln statt Weizen. So sehr ich noch darüber staune, wie vielfältig diese Welt doch ist, ich vernahm nur unwesentliche Unterschiede zwischen diesen Leuten und jenen aus den arvennischen Dörfern. Doch bald merkte ich, dass dieser erste Eindruck getäuscht hatte. Die Menschen, mit denen ich Kontakt suchte, erinnerten mich mehr an die aus Zirdán. Kaum ein Blick, der mich streifte, war neugierig oder gar freundlich. Stattdessen schien mir, als hätten sich die drohenden Wolken über uns niedergelassen, um die Augen der Dorfleute zu verdunkeln, wenn sie mich ansahen.
Meine Studien der nördlichen Sicht des Krieges hatten schon in Korus ergeben, dass Everenn mit am härtesten von den Angriffen unserer Streitkräfte getroffen wurde. In den Dörfern im Norden der Region bemerkte ich oberflächlich nicht viel davon, aber die Erinnerungen der Leute brodeln unter der ländlichen Ruhe. Die Kinder, die ich hier sah, waren mager, weil sie noch an den Folgen einer Verwüstung weiter im Süden litten, die vor ihrer Geburt stattfand. Die Nahrungsproduktion dieser Leute wurde damals fast von einem Jahr auf das andere zerstört. Die Überlebenden flohen hierher, und die Sitten dieser Leute zwingen sie dazu, ihre Nahrung zu teilen, bis alle Mangel leiden.
Sie nagen aneinander wie die Ratten. Der gleiche stumpfe Überlebenskampf, die gleiche nackte Not in den Augen. Das hätte mich warnen sollen, dass sie sich gegen mich zusammenrotten würden. Nicht nur Geld genug habe ich, um sie mit einem vollen Bauch über den ganzen Winter zu locken, ich bin auch noch von der Sippe, die ihre Väter und Mütter zu Tode gehetzt und verjagt hat. Was kümmert es die verzweifelte Ratte, ob ich letztendlich von einem anderen Geschlecht bin als die Nippuler oder Lakshader, die vor einer Generation hier wüteten? Die Not und der Zorn treiben sie zu ihrem Handeln. Es trifft sie aus diesem Blickwinkel betrachtet keine Schuld.
Und wie Ratten sammelten sie sich erst, bevor sie mich angingen. Ich hatte schon bemerkt, dass man mich missmutig ansah, und wollte nur etwas Proviant aufstocken, bevor ich in das nächste Dorf weiterzog, um dort mein Glück zu probieren. Doch als ich den Mann hinter der Theke um süßen Teig bat, verwehrte er mir den Handel. In diesem Moment blickte ich nach außen und sah, wie die Dorfleute sich dort versammelten, vor dem Geschäft. So ahnte ich, was mir blühte, doch zu spät, um dem sinnlosen Kampf zu entgehen. Draußen umscharten sie mich mit ihren harten Augen und fahlen Gesichtern, doch gingen sie mich nicht sofort an. Stattdessen warfen sie mir Beleidigungen entgegen und riefen mir Fragen zu, auf die es keine Antwort gab, die nicht als Provokation gedient hätte.
Gut zwanzig mögen es gewesen sein, vielleicht ein Fünftel der Männer, die in diesem Weiler lebten. Unter ihnen war keine einzige Frau. Dieses Zeichen wusste ich zu deuten. Sie hatten ihre Frauen versteckt, weil sie wussten, dass es zu Gewalt kommen sollte – und in der Gewalt spielen die nördlichen Frauen keine Rolle. Nichts konnte ich sagen, um sie von mir fernzuhalten, denn sie hörten gar nicht auf meine Worte. Doch wartete ich, bis der erste nach mir griff, bevor ich mich wehrte. Möge kein Mensch behaupten, Abd al-Mamet habe sinnlos Blut vergossen, als ihm noch eine andere Wahl blieb!
Ich kann froh sein, dass diese Leute aus Everenn waren und nicht aus Zirdán. Letztere hätten mir keine Chance gewährt, hätten gleich mit voller Gewalt zugeschlagen, um den Kampf so schnell wie möglich zu beenden. Wahrscheinlich hätten aber die Zirdáner mich nie behelligt. Ihr Fremdenhass ist aus Angst geboren, also vermeiden sie den Kampf, wenn sie nicht unmittelbar dazu gezwungen werden. Diese Everenner Ratten hassen, wie es Ratten tun: schmollend, langsam, unerbittlich. Sie brauchten Zeit, um sich in wirkliche Rage zu bringen, und diese gewährte ich ihnen nicht. Der erste, der mich anfasste, verlor seine Finger, seine beiden Freunde trugen Schnitte im Gesicht davon. Bevor jedoch der ganze Pulk mich niederreißen konnte, nutzte ich den Raum, den ich mir geschaffen hatte, um mich auf das Dach des Ladens zu schwingen, den ich gerade verlassen hatte.
Diese Handlung verunsicherte sie einen Moment, und so konnte ich meine Kräfte sammeln, bevor die ersten mir folgten. Ich griff tief in mir nach dem Blut des Keals und besann mich auf das Becken aus Stein, dem er innewohnte. Wir nennen diese Kuhle nicht umsonst den Kochtopf, denn in der Wüstensonne erhitzt sich der blanke Stein auf gleißende Temperaturen. Bei Mittag im Kochtopf zu stehen kommt dem Gefühl gleich, das die Honigheuschrecken über den glühenden Kohlen haben müssen. Diese erbarmungslose Hitze und die stumme Unnachgiebigkeit des Steins rief ich zu mir, und mein Herz härtete sich. Ich deutete auf den Boden, und die Kraft meines Ahnen brachte ihn einen kurzen Moment lange zum Beben, als die Steine unter dem Moorboden sich wandten und drehten. Ich deutete auf den wässrigen Dreck, und die Hitze der Wüstensonne fuhr in ihn hinein.
Meine Widersacher hatten fast alle den Stand verloren, als die Erde sich kurz aufbäumte, also lagen sie in genau diesem Dreck. Manche merkten rechtzeitig, dass er sich erwärmte, und stolperten wieder auf die Beine, doch die meisten waren noch umnachtet und blieben nur einen Augenblick zu lange liegen. Erst, als der Schlamm auf ihrer Haut begann, ihre Haut zu verbrennen, schrien sie auf und versuchten sich seiner zu entledigen, doch war er schon gehärtet.
Dreizehn Mann röstete ich in diesem Dorf. Vier weitere starben durch meine Klinge. Ich hatte meine Handlung wohl bedacht und mit meinen Kräften gehaushaltet – ein heftiger, aber kurzer Erdstoß, der dafür sorgte, dass der klebrige Dreck direkt an meinen Feinden haftete, wo er die stärkste Wirkung haben würde. Dann eine einfache (wenn auch relativ großflächige) Anwendung von genau der Art Hitze, die meinem Ahnen am nächsten lag, nämlich die, die die Erde speichert. Dennoch hatte es mich fast meine gesamte beträchtliche Kraft gekostet, die Wüste an diesen Ort zu holen, und der Rest war dabei draufgegangen, die Verwundeten zu töten. Meine Glieder waren schwer wie Blei und ich bekam kaum Luft, aber ich rastete keinen Augenblick. Meine Sachen waren schon gepackt, also schleppte ich mich in den Wald, wohl wissend, dass ich bestenfalls wenige Stunden hatte, bevor man nach mir suchte.
Seitdem bin ich mehrere Tage am Stück unterwegs. Ich gehe über die Dörfer, wo ich muss, und meide sie, wo ich kann. Meine Interaktionen mit den Dorfleuten beschränken sich auf knappen Handel, wenn ich Proviant brauche. Ich kann mich nicht verschleiern, um den Gerüchten zu entgehen, die mir folgen, also muss ich auf Geschwindigkeit setzen. Ich vermute, dass mich inzwischen gefährlichere Feinde als Ziel auserkoren haben als eine Horde Ratten. Die Geister flüstern mir zu, dass jemand mit Bindung zu ihnen hinter mir her ist. Ich habe genug Zeit hier verloren. Vier Tage noch über schweres Gelände, dann erreiche ich Marabien und hoffentlich so etwas wie Sicherheit.
Vierzigster (?) Tag des Winters im Jahre Sha’maash in der Zeit ohne Urven
Ich bin erstaunt, dass ich noch lebe. Noch erstaunter bin ich, dass ich frei bin, diese Feder zu führen. Als ich nach meinem letzten Eintrag aufbrach, warteten sie auf mich. Sonst habe ich eine gute Nase für Gefahr, aber dieses Mal ließ sie mich im Stich. Ich vernahm zu spät, dass man mir eine sorgfältige Falle gelegt hatte.
Sie waren nur zu viert, aber das waren weder Everenner Bauern noch Terénische Straßenräuber. Auf meinem Weg hatten sie einen Falldraht gespannt, der mich aus dem Gleichgewicht brachte. In jenem Moment traf mich ein stumpfköpfiger Pfeil in der Brust und warf mich zu Boden. Ich schnellte zwar wieder auf die Beine, doch war ich desorientiert. Zwei stürzten von vorne auf mich zu, ihre Knüppel bereit zum Schlag, und ich war vollends damit beschäftigt, ihren Angriffen zu entgehen und meine Klinge zu ziehen. Nur mein Ahne rettete mich, als der bis dahin unbemerkte Dritte seinen Stab gegen meinen Hinterkopf knallen ließ. Ich strauchelte, doch mein Körper war gehärtet wie Stein, also behielt ich gerade so den Stand.
Doch es reichte nicht. Ihr Schütze hatte sich derweil mit einem beschwerten Seil bewaffnet, das sich in meinem Moment der Schwäche um mich wickelte. Ich ging zu Boden, und ehe ich es mich versehen konnte, stand eine blasse, vernarbte Frau in genietetem Leder über mir. Sie sagte: „Wehr dich bloß nicht weiter, Wüstenjunge. Gib auf! Wir haben schon härtere Brocken als dich umgenietet, also zwinge mich nicht, dir noch mehr wehzutun!“ Ein Blick verriet mir schon, dass das eine ernstzunehmende Drohung war. So leicht, wie diese Leute mich überwältigt hatten, konnte ich mir kaum Chancen ausmalen, aus dieser nachteilhaften Lage zu entkommen. So schwieg ich und funkelte sie nur an, während sie mich fesselten. „Ach ja, und falls du auf die Idee kommst, irgendwelche Seile abzufackeln oder uns in die Erde versinken zu lassen oder so – sobald einer von uns irgendwas dieser Art auch nur im Ansatz bemerkt, bist du tot. Entweder schneiden wir dir die Kehle durch oder vielleicht sorgt Jenna dafür, dass deine Lungen sich mit Wasser füllen. Schade um das Wasser, meine ich!“ Eine weitere Frau trat hervor, eher zierlich gebaut, aber mit Händen, die offensichtlich an Waffen gewöhnt waren. Sie trug einen bespannten Bogen am Rücken – die Schützin also. Sie lächelte kurz verschmitzt, als ich sie verwirrt anschaute, und sagte mit melodischer Stimme: „Großvater war ein Wasserfall oder so, glaube ich.“
Meine Überraschung muss mir auf dem Gesicht geschrieben gewesen sein, denn all meine Wärter brachen in Gelächter aus. Sobald klar war, dass ich mich nicht mehr wehren wollte, wurden sie redselig und auf eine perverse Art fast freundlich. Sie sprachen frei mit mir und miteinander, während sie meine Taschen durchsuchten und meine Wertgegenstände abschätzend anschauten. Meine Fragen beantworteten sie mir sogar zum Teil, sodass ich bald erfuhr, dass ich in der Hand der Söldner der gefürchteten „Fünften“ war. Man erklärte mir, dass das ein Bezug auf einen Auftrag darstellte, bei dem sie unter kaiserlichem Befehl als die „fünfte Truppe Malleus Tenebraum im Namen seiner Majestät“ unterwegs gewesen waren, wo sie über sechs Wochen hinweg im Prinzip im Wald saßen und nichts taten, dafür aber gut entlohnt wurden.
Ich fragte weiter, wo man sie sonst einsetzte, und Ilse, die blasse Anführerin, erklärte mir, dass sie meistens von Dörfern und einfachen Leuten angeheuert würden, wenn die Kirche nicht mehr weiter wisse. Es scheint so zu sein, dass am Rande der nördlichen Gesellschaft immer noch Menschen sind, die verstehen, was es heißt, kämpfen zu müssen. Wenn ein Keal für die Nordlinge Probleme macht, haben sie ja keine Schamanen oder gar einen Urven, der für sie eingreifen könnte. Aber sie haben Leute wie diese Söldner, die Wissen über die Stärken und Schwächen der Keal sammeln und sehr direkt mit ihnen verhandeln.
Diese Verhandlungen sehen ganz einfach so aus, dass sie dem Keal auflauern und ihn töten. Damit wird er in die Wiedergeburt gezwungen, und die Eigenschaften, die ihn zur Sorge der Leute werden ließen, sind schlimmstenfalls eine Zeit lang gedämpft, bestenfalls in seinem neuen Leben nicht mehr vorhanden. Ilse erklärte mir, dass sie den Geistern manchmal die Chance geben, ihr Verhalten anzupassen, wenn sie sie einmal unschädlich gemacht hatten, aber nur, wenn die Bezahlung ein solches Risiko rechtfertigte.
So sehr dieses Verhalten von unseren Schamanen verschrien würde, diese Leute gefallen mir. Sie kennen keinen Weg, die Geister zu besänftigen, also nehmen sie die Beziehung selbst in die Hand und riskieren dabei freiwillig die Rache ihrer Opfer oder deren Verbündeter. Auf eine raubeinige Art sind sie fast schon selbst Schamanen. Darüber hinaus wagen sie es, aus den lahmenden Strukturen der nördlichen Gesellschaft auszubrechen. Eine Frau, die kämpfen will, oder ein Mensch, der das Blut eines Keals in seiner Ahnenreihe nicht verbergen will, kann sich als solchen „Schamanen“ so wertvoll machen, dass man ihn unbehelligt lässt. Ich vermute zwar, dass diese Toleranz Grenzen hat, aber diese Leute haben sich dennoch eine Art Freiheit ergattert. Schade nur, dass sicherlich viele andere daran scheitern, weil sie diesen Status nicht erreichen können, bevor sie die Gesellschaftsordnung erdrückt.
Die Fertigkeiten dieser Söldner sind natürlich auch ideal dafür geeignet, Djervaashe wie mich zu beseitigen. Deswegen hatten wohl die Dorfleute sie angeheuert, um mich für mein blutiges Vergehen an ihnen zu bestrafen. Sie hatten sich genau über mich informiert. Sie wussten, dass ich wahrscheinlich eine Verbindung zu Erde und zu Feuer hatte, also nahmen sie stumpfe Waffen. Ein Erdrufer ist zwar oft widerstandsfähig gegen Schnitte, aber schwerfällig und leicht umzustoßen. Auch bietet eine harte Haut keinen guten Schutz gegen stumpfe Schläge. Feuer wollten sie über Jenna neutralisieren, bis sie mich unschädlich gemacht hatten. Ihr wäre das aufgrund der rohen Kraft meiner Gabe in einem Zweikampf wahrscheinlich nicht gelungen, aber sie war selbst nicht zu verachten als Wassersängerin. Mit der Ablenkung durch ihre Kameraden war es für sie ein Kinderspiel.
Sie hatten mich aber leben lassen, weil sie wussten, dass jemand mit meinen Fähigkeiten sicherlich im Süden vermisst werden würde. Es war die geschickte Entscheidung, keine Rache durch etwaige Verbündete heraufzubeschwören und gleichzeitig die lukrative Entscheidung, solchen Verbündeten mit einer Geisel wie mir möglicherweise Zugeständnisse zu entlocken. Sie machten sich etwas darüber lustig, wie leicht sie mich niedergerungen hatten. Ich ließ mich nicht provozieren, denn ich wollte ihnen keine weiteren wertvollen Informationen über mich preisgeben. Ich hätte allerdings wohl meinen Ärger kundtun können, denn sie lasen bei unserer ersten Rast meine Aufzeichnungen. Jenna war offensichtlich in der Lage, meine verschleierte Schrift zu durchschauen. Inzwischen vermute ich, dass sie ein südliches Elternteil hatte – ein Nippuler, ihrer Kampfkraft nach zu urteilen.
Als sie sich also ausruhten und etwas aßen, während ich gefesselt am Boden lag und durch Gregor, einen der Männer, mit Wasser versorgt wurde, trug Jenna den anderen meine Erlebnisse vor. Ich schäme mich für keinen Inhalt dieser Seiten, doch fand sie es offensichtlich hochkomisch, meine Essensbeschreibungen pointiert zu kommentieren. Als sie spottete, dass ich für einen waschechten Sohn der Wüste etwas füllig wirkte, wollte ich sie gerade belehren, welchen Wert Reserven in einer harschen Umgebung wie die meiner Heimat haben können, doch erstickten mir meine Worte im Halse. Irgendetwas war um uns herum auf einmal anders – als würde der Sumpf den Atem anhalten. Als Djervaash hatte ich in meiner Jugend gelernt, solche Schwingungen wahrzunehmen und zu interpretieren. Ein Keal bewegte sich in der Nähe, dessen war ich mir sicher – und zwar einer, der dieser Truppe nicht freundlich gesonnen war.
Jenna hatte offenbar nicht die Erfahrung oder das Wissen als Wassersängerin, die Spannung der Umgebung zu spüren und zu deuten, und den anderen Söldnern fehlten die nötigen Sinne. Das Lager war vollkommen unvorbereitet auf einen Angriff. Wenn jetzt ein rachsüchtiger Geist hineinstürmte, war es hochwahrscheinlich, dass ich in dem Getümmel mich befreien und fliehen könnte. Das würde aber heißen, dass ich diese Leute ihrem Schicksal überlassen würde. Sie hatten mich zwar besiegt, aber sie waren die vielleicht würdigsten Nordlinge, denen ich auf meiner ganzen Reise begegnet war. Ich beschloss, auf mein Gefühl zu vertrauen, und rief eine Warnung.
Die Söldner erstarrten einen Moment, doch dann weiteten sich Jennas Augen und sie sprang auf. Sofort wimmelte es im Lager. Alle versammelten sich schnell um das Feuer und begannen, es so weit wie möglich zu schüren. Sie hatten eine Menge Holz gesammelt und es sorgfältig getrocknet, und jetzt wurde mir klar, wieso. Als der Sumpfgeist auftauchte, hatten sie sich alle schon mit brennenden Scheiten bewaffnet. Der Keal war zaghaft und wirkte unerfahren, was, wie ich später erfuhr, daran lag, dass er eine Wiedergeburt eines alten Feindes der Truppe war. Er ließ sich schnell von ihnen vertreiben, und ich staunte erneut, wie effizient diese Gruppe war. Sicher war das vermutlich einer der schwächeren Geister gewesen, die diesen Sumpf belebten, aber sie hatten dank meiner Warnung mit ihm wahrhaft kurzen Prozess gemacht. Sie hatten noch nicht einmal einen Djervaash wie mich zur Verfügung gehabt, dessen Macht über Hitze und Trockenheit dem wässrigen Geist besonders zugesetzt hätten.
Nach dem kurzen Kampf packte die Gruppe kurzerhand zusammen und zog ein gutes Stück weiter, bis wir trockenen Boden erreichten. Ich vernahm, wie sie beim Laufen miteinander tuschelten und Blicke in meine Richtung warfen. Als wir schließlich anhielten, sprachen sie noch kurz, dann kam Ilse zu mir und schnitt mir wortlos die Fesseln durch. „Wir sind keine Kameradenschweine, Wüstenjunge. Bezahlt werden wir sowieso, wenn wir dein Messer an die Dorfleute liefern. So schuldlos scheinen sie ja eh nicht gewesen zu sein, wenn man deinen Geschichten glauben darf. Von daher – dich als Geisel zu halten schmeckt mir nach der Aktion gerade immer weniger. Wir sind sowieso auf dem Weg nach Marabien. Da schauen die Magistrate auf dem Markt nicht so genau hin, weißt du? Naja, egal. Du kannst gerne mit uns mitkommen, ohne Wenn und Aber. Wenn du dort weiterziehen willst, ist das deine Sache. Falls du aber Interesse hättest, es eine Zeit lang bei uns auszuprobieren – also, wir hätten Verwendung für jemanden mit deinen Fähigkeiten.“ Sie verstummte, als hätten sie die vielen Worte ermüdet. Jenna warf lebhaft ein: „Ich kenne außerdem die besten Bäcker in Terén! Also, natürlich weiß ich, dass ein Wüstenlöwe wie du so etwas nicht braucht…“ Ihr Lächeln war süß wie der Regen im Sommer und teuflisch wie ein unerwarteter Sandsturm.
Ich schreibe dies in einem kleinen Teehaus in Marabien. Meine neuen Freunde sind am Markt, haben mir aber deutlich gemacht, dass sie mich entweder zur Weiterreise oder zum Abschied in inzwischen nur noch wenigen Minuten erwarten. Ich weiß, dass ich nicht mit ihnen weiterziehen kann. Mein Stamm wartet auf mich und meine Erkenntnisse, und sie werden meine Stimme brauchen, um die wütenden Geister des glühenden Sandes zu besänftigen. Aber ich kann nicht leugnen, dass es mich reizt.
Diese Menschen im Norden sind verwirrend. Unter ihnen wandeln so viele, die kaum besser sind als Tiere, aber gleichzeitig scheint es auch solche zu geben, die entgegen aller Erwartung so stark und lebendig und bewundernswert sind wie jeder Südländer. Vielleicht sind sie es sogar noch mehr, weil es ihnen trotz ihrer Umgebung gelingt. Nicht nur diese Söldner – ich bin inzwischen sicher, dass ich die Ansätze von solchen Qualitäten mehrfach gesehen habe und sie nur verkannt habe, weil ich den Norden noch nicht begriffen hatte. Die Frau, die sich trotz ihres Geschlechts Gehör verschafft, der Händler, der sich in die Kreise der Adligen hocharbeitet, um ihnen zu zeigen, dass er es kann – ja, auch diese tragen etwas Anerkennenswertes in sich. Ihre Gesellschaft ist krank und süchtig nach leerem Genuss, aber nicht jeder Einzelne ist infiziert.
Vielleicht suche ich Gregor, Marius, Ilse und vor allem Jenna noch einmal auf, wenn ich meine Pflicht erledigt habe. Wer weiß, was die Zukunft so bringen mag? So soll diese Chronik jetzt geschlossen werden, denn ihre Aufgabe ist erledigt. Was meine Reisen im Norden angeht, vermag ich jedoch nicht, das Gleiche zu sagen…