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Geschriebene Werke, Texte, Briefe und ähnliches ("Aus den Bücherregalen")

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Historie der Kriege: Eine Beschreibung des lange währenden Konflikts zwischen Norden und Süden.

Iliana: Ein uralter Mythos über die Geburt der ersten Begabten.

Bericht eines Wachhauptmanns: Eine kurze Beschreibung der Ereignisse in der Kaiserstadt nach dem 20. Friedensschwur (Ylodern I).

Zur Arbeit mit geschichtlichen Quellen: Ein Ausschnitt eines qualitiativ äußerst hochwertigen Theaterstücks zu den Ereignissen im Geisterkrieg.

Zur Bestimmung des kaiserlichen Blutes: Eine... zweifelhaft kommentierte Abhandlung über die Einführung des Erbrechts im Säulenpakt.

Zum ersten Kaiser: Eine Niederschrift eines Priesters in der Ausbildung.

Zu den Verbindungen der südlichen Heldengeschichten: Eine nördliche Sicht auf die Geschichten des Südens.

Ereignisse und Gespräche in Geschichtsform ("Was die Mäuse hören können")

Unterrichtsstunde: Eine Gruppe Schüler:innen bekommt einen Überblick über die Götter des Nordens.

Tirade: Ein Einblick in den nördlichen Umgang mit Geistern und solchen, die am Rande der Gesellschaft dieser Arbeit nachgehen.

Ein junger Mann, ein alter Mann und ein Baum: Die Perspektive des Südens auf Geister und Schamanismus.

Wie Katz' und Hund: Eine alte Geschichte der südlichen Diavonen über ihren Streit mit ihren Nachbarn, der Diasyuth.

Stimmen: Reaktionen verschiedener wichtiger Personen auf einen Terroranschlag der Roten Hand in Berbkaa.

Zur Gründung des Kaiserreichs: Ein Gespräch über die Ursprünge der kaiserlichen Tradition.

Mündliche Überlieferungen und Geschichten ("Inanna Veh!")

Über den Ursprung der Wüste: Eine alte Geschichte der Diasyuth über ihren Streit mit den Diavonen.

Vom gemeinsamen Feind: Wie ein weiser Mann sich die Unterstützung von mächtigen Helden sicherte.

Vom Kampf zwischen Sonne und Mond: Ein Aufeinandertreffen zweier großer Keale.

Von der Widernatürlichkeit: EIne Erklärung der Unterschiede zwischen Norden und Süden.

Von der Hetzjagd des Weisen: Die Art, wie sich ein weiser Mann dem Kampf stellt.

​Von dem seltsamen Gefangenen: Eine alte und gruselige Familiengeschichte zu einem wandelbaren Feind.

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Aus den Bücherregalen

Auszüge aus einem alten Folianten mit dem Titel: "Die Historie der Kriege von Ylodern. Eine Studie der Strategien, Formationen und Verläufe verschiedener Kriege und Schlachten unter Einbezug der kulturellen Unterschiede zwischen Nord- und Südylodern." Verfasst von Doctorus Blasileus Waldonie im Jahre 963 nach dem Falle Amrhans:

[…] Niemand erinnert sich heute noch, warum die Menschen des Südens und des Nordens einst begannen, einander zu bekriegen. Manche Mystiker behaupten, alle Kriege, die wir Menschen seit so langer Zeit gegeneinander führen, seien ein Nachhall des großen und schrecklichen Krieges, bei dem die Götter selbst gegen die Geister in den Kampf zogen und bei dem die Menschen in ihren überirdischen Heeren dienten. Der große Frevel des Vergießens von göttlichem Blut durch die unreine Waffe des Geistes Orakon soll das Gewebe des Schicksals so nachhaltig gestört haben, dass es den Menschen in Stellvertretung von Göttern und Geistern bisher nicht vergönnt war, einen andauernden Frieden zu schließen. Ohne diese These bestätigen oder widerlegen zu wollen, muss gesagt werden, dass es in der verbürgten Geschichte Yloderns keinen Frieden gegeben hat, der länger als zwei Generationen andauerte. […]

[…] Die Kriege formten auch unsere Länder, ihre Gestalt und Kultur. Der Norden, der sich bereits früh dem Götterkult zuwandte, rückte kulturell und politisch immer näher zusammen. Ursprünglich nur eine lose Ansammlung einzelner Königreiche, schlossen alle Könige und Fürsten im 27. Krieg einen länderübergreifenden Pakt. Dieser Säulenpakt war der Beginn des nordischen Kaiserreiches in seiner aktuellen Form. Laut ihm sollten die einzelnen Länder des Nordens die starken Säulen einer größeren und stärkeren Nation bilden. Er diente ursprünglich nur der Verteidigung gegen den vorrückenden Süden, aber dieser strategische Zusammenschluss zog sehr schnell politische und kulturelle Assimilationsprozesse nach sich. Nach dem Modell der einheitlich verwalteten Tempel der Götter nahm auch die Macht des Kaisers zu. Er wurde zu einem Herrscher, der über allen stand und dessen Untergebene als Beamte die Länder regierten. Seinem Oberbefehl unterstand das Säulenheer, ein transnationales Militär, losgelöst von feudalen Schwüren und Treueverpflichtungen. […]

[…] Die Wurzeln Arsas sind die innige Verehrung der Geister und eine nomadische Lebensweise. So bedeutet auch das Wort Arse übersetzt Freund der Geister und referiert so auf das Wenige, was allen Ländern des Südens gemeinsam ist. Der südliche König war ursprünglich ein gemeinsamer geistiger Führer Arsas. Er war verantwortlich für den beständigen Kontakt und Bund mit der Geisterwelt, schlichtete zwischen verstrittenen Stämmen, organisierte die Verteilung begrenzter Ressourcen und versorgte die heiligen Stätten der Länder. Doch das Königtum wandelte sich im Verlauf der Kriege immer mehr zu einer militärischen Führung. Allein der südliche König bzw. die Königin kann die große Sharweh ausrufen, eine Versammlung aller Arsen, um dort den Krieg zu verkünden. Die Uneinheitlichkeit der südlichen Heere macht ihre Vorgehensweisen oft nur schwer berechenbar, kann einem fähigen nordischen General aber auch zum strategischen Vorteil gereichen. […]

[…] Unter unserem weisen und gütigen Kaiser Reinwert IV. war es, dass nach 10 Jahren des Krieges auf dem Feld von Marisén der entscheidende Sieg gegen den Süden errungen wurde. Seine Truppen schlugen im Verbund die Stämme Arsas nieder und töteten dabei nicht nur die Mehrheit aller Krieger und Stammesfürsten, sondern auch den südlichen König Nurmal. Die Überlebenden der Schlacht erklärten sich daraufhin bereit, den Friedensvertrag von Terén zu unterzeichnen, und gaben den natürlichen Nachfolger Nurmals, seinen siebenjährigen Sohn Dorian, in die Obhut des Nordens. Sie stimmten der Errichtung von Klöstern der Götter in ihren Ländern zu und verpflichteten sich zu einer jährlichen Wiederholung des Friedensschwurs an den Kaiser. Ebenfalls sollten sie jährlich Reparationszahlungen an die Säulenpaktländer leisten und einen Großteil ihrer Kinder zur Erziehung in den Norden bringen. Seitdem überwachen Statthalter des Kaisers die Vorgänge am südlichen Königshof und die Ressourcenverteilung. […]

Auf einem sehr alten Geschichtenstein an der Küste Berbkaas stehen in veralteter Schrift vier Legenden aus der Vorzeit. Jede der Legenden nimmt eine von den vier Seiten des mannshohen Steins ein. Dies ist die Legende von jener Seite, die dem Meer zugewandt ist:

Iliana von Aravell war die Tochter eines mächtigen Flussherren und zu ihrer Zeit das schönste Menschenkind unter der Sonne. Am Tag ihrer Geburt wurden drei neue Gestirne geschaffen, welche man heute Jaspis, Minkor und Gibrad nennt. Am stärksten aus diesem Band leuchtet Jaspis, der Stern der Liebe und tatsächlich liebte ein jeder das Mädchen beinahe schon auf den ersten Blick. Auch die Keal waren empfänglich für Ilianas besondere Schönheit und Reinheit. So geschah es, dass sich der große Geist Orakon, der Herr des unterirdischen Feuers und der Metalle, in sie verliebte. Als Bruder von Shamash, der goldenen Sonne und dem Himmelsfeuer, ist er einer der mächtigsten Elementargeister. Er beobachtete das Menschenkind fünfzehn Sommer lang und fasste dann den Mut, sich ihr in der Vollmondnacht ihres Geburtstages zu zeigen. Doch er war so ungestüm und wild in seinem Werben um die junge Maid, dass er sie erschreckte und sie ihn zurückwies. Tief verletzt zog Orakon sich zurück, doch konnte er seine Liebe für Iliana nicht vergessen und so suchte er sie noch zweimal auf, um sie um ihre Hand zu bitten. Doch jedes Mal fürchtete sich das Mädchen so sehr, dass sie sein Werben nicht ertrug und davonlief. Schließlich verliebte sich die Maid von Aravell in einen zarten Jüngling aus Berbkaa, mit Namen Ramid, der mit einer wunderschönen Stimme gesegnet war und Ilianas Schönheit in vielen Liedern besang. So wie in diesem Lied:

„Oh du mein Rosenstern“

 

Dein Licht blendet mein Aug,

doch bin ich wohl der glücklichste Blinde,

dass dein Licht es ist - oh Schöne!

welches mein Augenlichte raubt.

 

Rosen blühen auf deinen Wangen,

Mein Augenstern.

Von Rosenduft bist du umfangen,

Mein leuchtend Augenstern.

 

Deine Haut so zart – oh Schöne!

wie ein Schmetterlingshauch.

berührst du mich hinterm Rosenstrauch,

berühren sich Seele und Seele.

 

Meine Augen ruhen auf deinen Wangen,

Mein Rosenstern.

Von deinem Duft bin ich umfangen,

Mein leuchtend Rosenstern.

Die Eltern von Iliana begrüßten diese Verbindung, da er in seinem Land ein mächtiger und wichtiger Mann war. Darum sollte er nach einem Jahr nach Aravell zurückkehren, um seine ihn liebende Braut in sein Heimatland zu führen. Denn nach altem Brauch mussten bei einer solchen Verbindung erst das Wohlwollen der Geister erhandelt und auch in der künftigen Heimat der jungen Frau viele Vorbereitungen getroffen werden.

 

Doch der große Keal Orakon hatte seine Liebe zu Iliana nicht vergessen und wurde eifersüchtig auf das Glück der jungen Liebenden. Er beschloss, sich die Abmachung der Liebenden zu Nutze zu machen, um doch noch die Hand der schönen Iliana zu erlangen. Einen Monat vor der Hochzeit schickte er Ramid seinen giftigen unterirdischen Odem, von dem der Jüngling krank wurde und rasch verstarb, ohne seine Liebste noch einmal wiederzusehen. Nach dessen Tod nahm Orakon Ramids Gestalt an und erschuf im Meer vor der Küste Berbkaars eine zauberhafte Insel aus den Tiefen des Wassers. Auf ihr wuchsen tausenderlei Blumen und Pflanzen und friedliche Berg- und Haingeister wandelten auf ihr im Sonnenlicht. Dieses magische und abgeschottete Reich sollte seine und Ilianas Heimat werden. Mit Hilfe seiner falschen Gestalt führte Orakon Iliana schließlich doch zum Traualtar. Diese bemerkte zwar die leichte Veränderung im Wesen ihres Gemahls, aber er zeigte sich ihr gegenüber dennoch so zärtlich und liebenswürdig, dass sie darüber hinwegsah. So gelang es Orakon letztendlich, Ilianas Leidenschaft und Liebe für sich zu gewinnen. Doch sein Verrat an den Liebenden und der Mord an Ramid verfluchten ihre Verbindung.

Ein Jahr nur lebten sie glücklich auf der Insel, solange bis ihr erstes Kind geboren wurde. Orakon erschrak heftig in Ramids Gestalt, als er sah, dass ihr Sohn als hässliches und abstoßendes Wesen das Licht Yloderns erblickte. Die Untat des Vaters hatte die Frucht ihrer Verbindung, die auf Mord und Lügen basierte, im Leib der Mutter vergiftet und entstellt. Zutiefst bestürzt ließ er es ohne Namen in eine verborgene Höhle auf der Insel bringen und erzählte der entkräfteten Iliana, ihr Kind sei tot zur Welt gekommen. Doch wirklich sterben lassen konnte er es nicht. So bestach er ein blindes Weib vom Festland, auf die Insel zu kommen und sich stillschweigend um seinen Sohn zu kümmern. Iliana war todunglücklich und ließ sich kaum von ihrem Mann trösten. Während der kommenden Jahre wuchs ihr missgestalteter Sohn bei der Höhle unter Aufsicht der Amme und freundlicher Geistwesen heran. Mit jedem weiteren Tag offenbarte sich dabei immer mehr, dass seine Stimme und sein Wesen von bezauberndster und lieblichster Art waren, sodass die Amme Mitleid mit dem armen Kind verspürte. Sie bat Orakon, seinen lieben Sohn doch zu sich zu nehmen, doch dieser weigerte sich aus Angst, Iliana könne ihn zu Gesicht bekommen und darüber den Verstand verlieren.

​​

Zwei Sommer darauf wurde das zweite Kind geboren, wieder war es ein Junge. Dieses Mal war er vom Äußeren ebenso bildschön wie seine Mutter. Überglücklich schloss Iliana ihr lebendes Kind in die Arme und vergessen war all ihr Unglück bei der ersten Geburt. Auch Orakon strahlte vor Stolz und Glück und die beiden liebten ihren Sohn, den sie Amris – Geschenk der Liebe – nannten und ihre Zuneigung füreinander wuchs darüber. Ihr Glück schien vollkommen.

Doch als die Jahre vergingen und Amris heranwuchs, zeigte sich hinter dem schönen und liebreizenden Antlitz ein bösartiges und hinterhältiges Wesen. Amris tyrannisierte die wenigen Menschen, die mit Iliana und Orakon auf der Insel lebten, quälte unschuldige Tiere und trieb die Geister von sich fort. Er zeigte in seinem ganzen Benehmen einen großen Hass gegen alles Lebendige. Doch am schlimmsten von alledem war seine Stimme. Wenn er sprach war allen, die sie hörten, als würden sie von scharfen Messern durchbohrt und der Junge weidete sich an ihrem Schmerz. Seine Eltern waren zutiefst erschrocken über ihren Sohn. Als Amris seine jüngere Milchschwester, das Kind einer verstorbenen Freundin von Iliana, beim Spielen zu Tode quälte, verbannten sie ihn schweren Herzens, indem sie ihn auf einem Boot im offenen Meer aussetzten. Durch die eigene Hand töten konnten sie ihren Sohn nicht, obwohl er sich als durch und durch verderbt erwiesen hatte. Ilianas Schmerz war unaussprechlich und sie zog sich immer mehr aus der Welt der Lebenden zurück. Als sie schließlich wieder schwanger wurde, verschlechterte sich ihr Zustand so dramatisch, dass nicht sicher war, ob sie und das Kind überleben würden.

​​

Voll des Jammers ging Orakon auf der Insel umher und verfluchte sein schlimmes Schicksal. Schließlich kam er an jener verborgenen Höhle seines Erstgeborenen vorüber, aus welcher er eine wunderschöne Stimme eine traurige Weise singen hörte. Diese Stimme ging ihm so zu Herzen, dass er in Tränen ausbrach und die ganze Last seiner Schuld über ihn hereinstürzte. So ging er zu seiner geliebten Frau und gestand weinend und mit den Fäusten anklagend gegen seine eigene Brust schlagend seinen Verrat an ihr und dem Jüngling Ramid. Er verriet ihr, dass er in Wahrheit der große Geist Orakon und nicht Ramid sei und dass seine Schuld sie und ihre Kinder ins Unglück gestürzt hatte. Iliana hörte ihn in Ruhe an und als sie die volle Bedeutung seiner Worte begriff, klagte sie laut, weinte und wand sich vor Schmerz. Ihr Haar verlor auf einen Schlag alle Farbe.

Schließlich verlangte sie ihren ersten Sohn zu sehen. Orakon zeigte ihr die Höhle, bedeutete ihr aber, sich nicht eher dem Kinde zu zeigen, oder von ihm abzuwenden, bis sie seinen Gesang vernommen habe. Iliana willigte ein und so schlichen sie sich an die Höhle heran. Sie fanden den Jungen mit seiner alten Amme beim Licht einer kleinen Kerze spielend im Inneren. Schließlich stimmte der Knabe eine alte Weise an und seine Stimme erklang so klar und rein in der Dunkelheit, dass es ihnen Tränen der Ergriffenheit in die Augen trieb. Doch als Iliana sich ihm zeigen wollte, traf das Licht der Kerze sein Antlitz und vor Schrecken brachte sie es nicht über sich, ihrem Sohn näher zu kommen. Von Furcht ergriffen floh sie fort von der missgestalteten Kreatur. Als Orakon sie schließlich wiederfand, wurde sie von einem schweren Fieber gepeinigt. Drei weitere Wochen lag sie krank darnieder. Ein Feuer aus Wut, Trauer und Schmerz über den Verrat zehrte an ihrer Lebenskraft. Orakon glaubte schon seine geliebte Iliana müsse im Zorn sterben und so flehte er sie an, Rache an ihm zu nehmen, damit sie in Frieden dem Hundesohn des Zeitgeistes, dem mahlenden Tod, gegenübertreten könne.

In Ilianas Herz war mit der Zeit jedoch eine tiefe Liebe für Orakon gewachsen. Sie liebte nun Orakon selbst und nicht mehr jenen Ramid, den lange verstorbenen Berbkar, den sie nur einen Sommer lang gekannt hatte, wie sie nun wusste. Sie liebte den Ehemann, der Orakon für sie so lange Zeit gewesen war. Dennoch konnte sie ihm seinen mehrmaligen Betrug nicht verzeihen. Darum entschied sie voller Kummer, dass sie die Insel und Orakon für immer verlassen müsse. Nachdem in ihr die Sehnsucht nach der Heimat, einem inneren Frieden und der Wunsch, ihr letztes Kind als Kind der echten Liebe groß zu ziehen, gewachsen waren, linderte sich ihr Fieber und sie genas.

Orakon trauerte zwar um den Verlust seiner geliebten Frau, doch er akzeptierte ihre Entscheidung. Zum Abschied bat sie ihn darum, den Jungen aus der Höhle zu lassen und ihm für immer die Abgeschiedenheit der wunderschönen Insel als sichere Zuflucht vor den Menschen zu schenken, damit sie ihm ob seines Äußeren kein Leid zufügen würden. Zum Abschied schenkte Orakon ihr zwei Dinge: ein Schiff, das sie überall binnen eines Tages und einer Nacht hintrug, und ein Amulett für ihr drittes Kind. Es war ein magischer Gegenstand, der sich in den Händen derer, die von Orakons Blut stammten, in jenes Objekt verwandeln würde, das sie gerade am nötigsten brauchten. Als Iliana gegangen war, machte Orakon aus seiner Insel ein einsames Paradies, auf dem er nur einige blinde Diener und seine Freunde, die Berg- und Haingeister zurückließ, um seinem Sohn Gesellschaft zu leisten. Er gab ihm den Namen Jinmai, was in alter Sprache „Geliebter Sohn“ bedeutet, und verließ dann die Insel.

Ein Bericht von Lorenzius Gabus, Hauptmann der X. Wachgardisten, Kaiserstadt, westliche äußere Distrikte:

Mit Schrecken muss ich berichten, dass die Randbezirke im Westen der Stadt gänzlich der Anarchie anheimgefallen sind. Die Straßenzüge haben sich in bittere Schlachtfelder voller Barrikaden verwandelt. Häuser und Läden brennen lichterloh. Die Feuer und das Schlachten toben nun etwa in der dritten Woche. Anbei füge ich dem Bericht eine Liste der verwundeten und verstorbenenn Stadtgardisten zu. Nach intensiver Nachforschung hat der investigatorus des Ordos Tutelae ermittelt, dass die so plötzlich ausgebrochenen Unruhen wohl mit einer Verschiebung der Machtverhältnisse in der verbrecherischen Unterwelt des Kaiserreichs in Zusammenhang stehen. Dabei fiel der Name „Atticus“ erstaunlich oft.

Diesen Namen haben wir nur durch intensive Befragung in Erfahrung bringen können. Offenbar handelt es sich dabei um den kürzlich verstorbenen Atticus Philantropenos.

Wie sich nun erahnen lässt, hat sich in den dunklen Ecken und fragwürdigen Vereinigungen, die sich kreuz und quer durch das Kaiserreich ziehen, eine Lücke aufgetan. Offenbar versuchen verschiedene Kräfte, diese Lücke zu füllen und sich als neue Machthaber der Unterwelt zu etablieren.

Ich erbitte hiermit die Befehlsgewalt über die in der Kaserne stationierten Soldaten der kaiserlichen Armee und die Abriegelung der entsprechenden Distrikte.

Gez.

L. Gabus, Hauptmann der Wachgardisten

Zur Arbeit mit geschichtlichen Quellen
Hören statt lesen!

Werter Kollege, anbei ein Beispieltext aus dem neuen Fund. Mittlerweile wissen wir, dass die Schriftstücke mindestens zweihundert Jahre alt sind. Es handelt sich augenscheinlich um die Akten einer Beamtin des Kaisers, Casia Phoca. Sie war offenbar an vielen größeren kulturellen und politischen Ereignissen im Hintergrund tätig. Das folgende Exzerpt stammt von einem Stapel ähnlicher Werke, die vermutlich für ein Fest gedacht waren. Die Markierung auf der Akte ist noch nicht ganz rekonstruiert worden; ein Überrest roter Schrift lässt das Fragment „Qualitä“, dann unleserlich, dann „gelehnt“ vermuten.

BOBEIAN:
Ist nicht zu groß die Gefahr?
Ist er nicht unberechenbar?

EREBUR:
Keine Furcht soll durch uns gezeigt.
Vielleicht zum Frieden er doch neigt.

BOBEIAN:
Oh weh, mir ist nicht wohl hierbei.
Nehmt eine Wache – nein, nehmt zwei!

 

Szenenwechsel. EREBUR, AMRHAN, VIVIANA auf einer Bühnenseite. ORAKON und eine DUNKELGEROBTE GESTALT auf der anderen Seite.

 

EREBUR:
Soll’s Frieden sein? Oh finstrer Wüterich,
Wir sind gekommen. Nun sprich!

 

ORAKON:
Frieden? Wohl nicht, das ist nur Pein!
Wandel und Tod sind mein Dasein!

 

VIVIANA:
Schande dir, oh dunkler Herr -
dein Herz in dir, wird’s wohl nicht schwer?

 

ORAKON (lüstern):
Oh, Liebe kenn‘ ich wohl, mein Schatz,
auch in mir ist dafür Platz.
Komm wohl doch ein bisschen näher,
pocht mein Blut doch umso höher!

 

EREBUR (erzürnt):
Schurke! Wend‘ dein Blick nun ab!
Sonst findest du ein frühes Grab!

 

DUNKELGEROBTE GESTALT:
Ist das die Ehr‘ der Götter nun?
Mit Frieden locken, Hass zu sprüh’n?

 

AMRHAN:
Wartet!
Es muss zum Kampfe nun nicht kommen.
Sprechen wir, handeln wir, lieber besonnen.
Blut zu viel ist schon geflossen.
Seid ihr des Krieges nicht verdrossen?
Wollt ihr nicht einmal den Schritt nun wagen?
Ich kann nicht noch mehr Streit ertragen.

 

(VIVIANA ist mittlerweile zwei Schritte auf ORAKON zu, AMRHAN schon vier. ORAKON ist ein Schritt vor die GEROBTE GESTALT getreten.)

 

ORAKON:
Du sprichst süße Worte, schönes Kind.
Doch die Lava der Erde kühlt kein Wind.
Ihr seid wohl ewig, endlos starr,
Nicht lernfähig, nicht wandelbar.
Doch kann ich heilen diese Pein –
Diener, gib mir das, was mein!

 

(Die GEROBTE GESTALT reicht ORAKON ein Schwert. Er stürmt vor und schlägt damit AMRHAN. Auftritt CHOR.)

 

CHOR: Es endet, was ewig war! (wiederholt)

 

(Der GEROBTE DIENER steigt beim Chor mit ein. ORAKON etwas später auch. Szenenwechsel.)

Zur Bestimmung des kaiserlichen Bluts – alte Schrift, kommentiert durch anonyme Hand
Hören statt lesen!

Als Urim nun starb, musste an seiner statt ein neuer Herrscher gefunden werden. Wie schon abermals zuvor traten die Vertreter der Götter auf Erden zusammen. Seitdem die Götter nicht mehr selbst auf den Wettstreit blickten, hatten sich die Jünger Bobeians häufiger als alle anderen als Sieger gezeigt. – hier sieht man, dass die Qualität der Fertigkeiten zählte, nicht die Zugehörigkeit alleine. Wäre es eine Frage des natürlichen Rechts (oder im übertragenen Sinne des Blutes), so wäre hier nicht impliziert, dass auch andere als Bobeians Kämpen siegreich sein könnten.

So oft hatte Bobeians Tempel schon gesiegt, dass manche anderen nicht mehr antraten. Doch kamen sie dennoch, um beizuwohnen und dem neuen Kaiser Rat zu erteilen – allen voran die des alten Eremiten. In diesem Jahr war die Zusammenkunft besonders wichtig, denn es war unter den einfachen Menschen ein großer Streit ausgebrochen. Kämpfe drohten, in Kriege umzustürzen. Urims Nachfolger würde Frieden stiften müssen. – eine offensichtliche rhetorische Formel, die klar zeigt, dass sowohl die Liebe des einfachen Volks wie auch die Fähigkeit, Frieden zwischen Kontrahenten zu bewahren, die begehrenswertesten Eigenschaften eines Kaisers sind.

Jetzt berichten aber Zeugen, dass der Wettstreit nicht mit der gleichen Brüderlichkeit ablief, wie es in den Jahrzehnten zuvor gewesen war. Der Zwist, der sich im Land breitmachte, zeigte sich in geringerer Form auch bei den Gottesfürchtigen vor Ort. Ständig zankten sie sich ob der besten Art, das einfache Volk zu bändigen, und manch einer geriet so in Rage, dass seine Vorschläge für seinen Gott wie Frevel geklungen hätten. – hier wird klar, dass ein Herrscher, der nicht fromm in Wort und Tat ist, diesen Posten nicht verdient.

Die Dinge spitzten sich endgültig zu, als bei einem Wettbewerb eine der beiden Parteien zu scharfen Waffen greifen wollte. Blutvergießen konnte einstweilen abgewendet werden, doch schlichtende Worte von einer Seite erregten feurige Gemüter auf anderer, bis dass die Lage zu eskalieren drohte.

Nur der Vertreter Bobeians, genannt Argandae, war taub für jede Provokation. Er wandte sich ab und betete und wurde erhört. Der große Architekt kam grimmig darnieder und deutete auf einen bisher unauffälligen Zuschauer. – der ‚unauffällige‘ Zuschauer ist sinnbildlich für eine Gefahr von innen; ein würdiger Herrscher muss auch verdeckte Feinde aufspüren können.

Als dies geschah, blickte Argandae endlich klar und sah, dass der Zuschauer lachte wie ein Puppenspieler über seine Kunst. Er schrie wütend auf, ergriff seine Axt und schlug dem finsteren Wicht mit einem Hieb den Kopf von den Schultern. In jenem Augenblick erstarrte und erkaltete die Wut in den Herzen der aufgebrachten Wettstreiter. – Argandae braucht göttliche Führung, um die Aufgabe zu erledigen, die er eigentlich hätte selbst schaffen müssen; die ‚Grimmigkeit‘ Bobeians ist hier klar als Enttäuschung zu erkennen.

Nun sprach Bobeian selbst zu allen Anwesenden und verkündete streng, dass durch seine Hilfe der Zwist beendet war. Seine göttliche Hand gab Argandae die Kraft und das Recht zu führen. Fortan sollte das Blut Argandaes herrschen, auf dass kein neuer Wettbewerb einen neuen Zwist entfache. – Bobeians Enttäuschung zeigt sich erneut – nur durch seine Hilfe wird Argandae emporgeführt. Alle Kontrahenten waren zu schwach, um ohne die ‚göttliche Hand‘ zu führen. Ein würdiger Nachfolger hätte Bobeians Segen geerntet – hier auffällig ausgeblieben zugunsten von ‚Kraft‘ und ‚Recht‘ – wenn er die Stärken gehabt hätte, die Argandae nicht hatte.

Im Lichte seines Antlitzes und im Hall seiner Stimme waren alle gebannt, nur nicht der Vertreter Marduks. Denn dessen linkes Auge stand wie das seines Gottes immer im Schatten, dessen linkes Ohr hörte wie das seines Gottes nur auf seine innere Stimme. Und so behauptete er danach, dass der Kadaver des unheimlichen Zuschauers sich während dieser Rede ungesehen aufgerichtet hätte, seinen ungehört lachenden Kopf gefunden hätte, und sich mit diesem davongestohlen hätte. – Metapher dafür, dass die Gefahr noch lauert und noch gebannt werden muss.

Es zwingt sich der Schluss auf, dass die Erbkaiserschaft von Bobeian nur als Zwischenlösung gedacht war, bis ein wirklich würdiger Nachfolger erscheint, der die Feinde des Inneren ausmerzen kann und nachhaltig Frieden schafft. Ein solcher müsste geschickt verhandeln können und die Liebe des einfachen Volkes genießen… [weitere Notizen sind unleserlich]

Zum ersten Kaiser – Niederschrift von Marius, Qualificatus des Silen
Hören statt lesen!

Es heißt, dass Erebur, der damals noch die Götter anführte, den Menschen Àrur im Kampf um seine Familie gegen bösartige Geister bemerkte. Der alte Eremit griff entsprechend seines Wesens nicht direkt ein, aber schenkte Àrur insgeheim Kraft, um die unmittelbare Gefahr zu bannen. Erebur war zufrieden. – Details, Marius! Details sind wichtig!

Zu dieser Zeit wandelte auf der Erde ein Mann weit von der Gnade der Götter. Er verkehrte mit Geistern und unterwarf sich ihnen im Tausch gegen weltliche Macht. Durch ihren üblen Einfluss verleitet hatte er die Länder um seine Heimat unterworfen. Er drohte nun, auch diejenigen Völker zu überschatten, die den Göttern hold waren. Das gefällt mir hier von der Struktur nicht. Und verschleierst du absichtlich seinen Namen oder warst du einfach zu faul, die entsprechenden Quellen zu lesen? Egal – ich schenke dir die Recherche jetzt nicht, schau gefälligst selbst!

So erkannte der große Architekt Bobeian das Potenzial in Àrur. Weitsichtig überzeugte er Erebur, sich dem Menschen zu offenbaren und Hilfe anzubieten. Einwilligend trug der Eremit Àrur auf, Verbündete zusammenzurotten, mit denen er die Gefallenen und die unreinen Geister, die ihn manipulierten, ein für alle Mal zerschlagen sollte. Ich sehe, dass du deine blumige Sprache zumindest ein bisschen ablegst. Du ahnst nicht, wie erleichtert ich bin, nicht eine völlig deplatzierte rhetorische Frage am Ende dieses Absatzes zu lesen.

Wo immer Àrur hinkam, staunten die Leute vor dem göttlichen Segen, der ihn umhüllte. Diejenigen Herrscher, die ein reines Herz hatten, erkannten in ihm das Heil des rechtmäßigen Kaisers und schlossen sich seiner Sache an. Gut gemeistert – die Quellenlage, ob der Segen greifbar und sichtbar war oder nur eine Metapher ist nicht eindeutig, aber du umschiffst die Frage geschickt. Als sich schließlich alle versammelten, um die Strategie gegen die Geister festzulegen, wurde Àrur einstimmig zu ihrem Anführer erklärt. Er mochte seinen Verbündeten im manchen Dingen nachstehen - Hah, gut geschrieben. Das lesen die hohen Herren vom Ordo Consilii natürlich nicht gerne, aber die Wahrheit ist eben wie sie ist -  seine Worte waren aber die weisesten. So brachte Àrur der Allianz den Sieg über den Gefallenen und züchtigte die Geister, die den Kampf angezettelt hatten.

So sehr tat sich Àrur für die Sterblichen hervor, dass ihm auch nach dem Krieg viele loyal blieben. Àrur war jedoch zu bescheiden und auch von zu vielen Verlusten während des Krieges gezeichnet, um weiter über sie zu verfügen. Stattdessen überließ er die weltlichen Angelegenheiten seinen Feldherren und verbreitete das Wort der Götter. Obwohl er nicht länger über die Allianz herrschte, als es nötig war, um den ersten großen Krieg gegen die Geister zu gewinnen, und obwohl er nie die zeremonielle Salbung bekommen hat, herrscht Einigkeit unter Gelehrten, dass Àrur der erste Kaiser war.

Ordentliche Arbeit. Korrigiere die Stellen, die ich hervorgehoben habe, und setze das neu in einer Fassung auf, die vom Schriftbild Silen gerecht wird. Ich denke, wir können diese Seite dann zur Sammlung des kleinen Schreins hinzufügen. Aber nicht übermutig werden! Zentral wird sie nicht ausgestellt, nur als Seitenstück. – Art. Dok. Alanna

Zu den Verbindungen der südlichen Heldengeschichten
Hören statt lesen!

Die Geschichten, die ich in Arsas Länder gesammelt habe, verlieren freilich etwas dadurch, dass ich sie niederschreibe. Meinerzeit habe ich beobachtet, wie verschiedene Erzähler aus dem gleichen Stoff ganz unterschiedliche Gewänder geschneidert haben – diese lebendige Tradition der Anpassung an das Publikum, die Stimmung und die zu vermittelnde Lektion existiert immer nur von Moment zu Moment.

Aber mein Vorgehen hat auch einen einzigartigen Nutzen, denn die große Variation des Geschichtsstoffs und die Freiheit der einzelnen Erzählerinnen macht es schwierig zu verstehen, wie verschiedene Legenden gemeinsame Themen und Inhalte bedienen. Der Blick von außen erlaubt es mir, Zusammenhänge herzustellen, die selbst einem weitgereisten Südländer vielleicht nicht klar wären – oder vielleicht doch, aber dieses Wissen würde mit dem Tod eines solchen Erzählers verlorengehen. Meine Schrift hat aber das Potenzial, lange zu währen, auf dass ein so schmerzhafter Verlust vermieden werden kann.

Zunächst möchte ich mich auf die Legenden der Ulungesen konzentrieren, die sich um eine mächtige Heldenfigur drehen. Je nach Stamm wird diesem manchmal der Name eines verehrten Vorfahren gegeben. Oft hört man aber den Namen Sheol-Ga oder Variationen davon, wenn dies nicht der Fall ist. Die Ulungesener Erzähler und Schamanen streiten sich jedoch darüber, ob der Sheol-Ga eines Stammes dem Shuulgai eines anderen gleicht. Zum einen geschieht das aus Familienstolz, zum anderen jedoch aus Widersprüchen in den Details. So führt diese Figur in manchen Erzählungen einen mächtigen Speer, der ihm vom großen Geist Orakon geschenkt wurde, aber in anderen eine prächtige Axt, die er sich durch heldenhafte Taten von einem alten Stammesfürsten erarbeitet hat. Oder es heißt, dass ihm keine Waffe schaden konnte, während andere ihn nach jeder noch so schlimmen Verletzung wiederauferstehen lassen. Immer gleich sind jedoch die Tugenden, die er verkörpert: er ist stark, oft sogar übernatürlich stark; er ist klug und nutzt die Schwächen seiner Feinde gegen sie; er ist charismatisch und vereint viele unter seinem Banner. Zudem ist er besonders geschickt im Umgang mit Geistern (oder ‚Keale‘, wie die Arsen zu sagen pflegen) und es gelingt ihm fast immer, diese dazu zu bringen, nach seinem Willen zu handeln.

Ob die Geschichte nun leichtherzig ist (so wie die Erzählung über den Jungen, der auf Shamaashs Rücken ritt und lebend davonkam), aufregend (wie die Schlacht des Schon-kui gegen den Norden) oder eine Lektion vermitteln soll (wie die Begegnung der irdischen mit der himmlischen Sonne), diese Elemente bleiben ähnlich. Sheol-Ga ist selten verschlagen und nimmt nie die Rolle der Spaßfigur ein; allenfalls schafft er es durch Charme, andere vorzuführen.

Auffällig ist auch die Verbindung des Sonnenthemas mit dieser Figur. Sheol-Ga wird häufig mit Metaphern des Lichts beschrieben, er ‚strahlt‘ oder ‚flackert auf‘. Die Ulungesen verbinden (wahrscheinlich aufgrund ihres bergigen Zuhauses) die Sonne mit einer meist kurzen Phase der Glorie, was in vielen Geschichten über Sheol-Ga angedeutet wird. Oft wird ihm ein Niedergang angedichtet im Kampf gegen einen Angreifer, dessen Heer überlegen ist und der durch Tücke gewinnt statt durch ehrenhafte Strategie (wobei hier ein nördlicher Leser gewarnt sei, dass der Ulungesische Ehrenbegriff von seinem wahrscheinlich abweichen wird). Selbst in den Geschichten, wo Sheol-Ga unbestritten als Gewinner hervorgeht, deuten die Erzähler an, dass ihm ein dunkles Schicksal bevorsteht, ähnlich wie in vielen Behandlungen der Harmoniden im Norden.

Da die Bewohner von Ulungai selbst im Süden als zurückgezogen gelten und da viele von ihnen einen Hass auf den Säulenpakt pflegen, war es für mich nicht so einfach, mit ihnen zu sprechen. Viele Geschichten hörte ich aus zweiter Hand und bei den wenigen, die ich direkt von Ulungesen hörte, hatte ich keine Gelegenheit, Fragen zu stellen. Viele Details der Geschichten führen mich jedoch zu dem Schluss, dass die Ereignisse, auf die diese Geschichten zurückgehen (so sie nicht erfunden sind), in etwa um die Zeit von Àrur stattgefunden haben müssen. Auch wenn manchmal neuere Elemente in den Geschichten vorkommen, wie etwa ein komplett vereinter Norden als Feindbild, so ergeben beispielsweise die Taktiken, die in den Schlachten beschrieben werden, keinen Sinn vor dem Hintergrund der strategischen Doktrin des Säulenpakts, selbst zu seinen Anfängen. Sie passen viel besser auf eine frühere Zeit.

Interessant ist jedoch, dass kaum ein anderes Land solche Geschichten pflegt. Abseits von vereinzelten Sprichwörtern, wie etwa das Lydhan’sche „Wütend wie Schulgar“, findet man kaum Referenzen zu diesem Namen, und wenn, dann sind sie meistens nicht die, die man mit einem großen Helden verbinden würde. Das genannte Idiom aus Lydhan zum Beispiel wird meistens verwendet, um eine zwar starke, aber auch unverständige Wut zu beschreiben – man spricht so über Kinder oder über Menschen, die aus Ärger ihr Gesicht aufgeben.

 

Es stellt sich die Frage, ob die Figur vielleicht, so sie wirklich historisch ist, ein Anführer der Ulungesen (oder ihrer Ahnen) war, der gegen andere arsische Stämme kämpfte und deswegen von ihnen nicht geehrt wird…

Was die Mäuse hören können...

Eine Unterrichtsstunde

“Wer kann die großen Götter gemäß ihres Ranges in den drei Amphoren aufzählen und zuordnen?” Stille herrschte in dem stickigen Raum. Eine nervöse und schwitzige Stille. Die Jungen in ihren einfachen braunen Kutten hatten ihre Blicke entweder auf ihre Pulte gesenkt oder starrten, scheinbar in ernsthafte und tiefgründige Überlegungen verstrickt, auf die Wände oder Hinterköpfe ihrer Sitznachbarn. „Niemand?“ Die gemessenen Schritte des Magisters Doctus Anselmus wanderten in nervenaufreibenden Bahnen zwischen den Reihen seiner Schüler umher. Sie alle waren noch nicht lange in der Schola. Erst vor einem Monat wurden die meisten von ihnen zum ersten Mal in die Stadt zur Schule geschickt, um ihrem jeweiligen Stand nach die angemessenen theoretischen Grundkenntnisse zu erlernen. Im Alter von durchschnittlich zehn Jahren gingen die meisten Kinder für ein Jahr in die kirchlichen Schulen, um ihre Fertigkeiten, die sie seit ca. 4 Jahren im Gewerbe ihrer Eltern ausbildeten, mit theoretischen Kenntnissen anzureichern. Viele lernten Lesen und Schreiben, manche sogar rechnen. Es gab Chemie und Physik für einige, aber auch Handarbeit, Werken und entsprechende Materialkunden. Nur zwei Fächer waren für alle gemeinsam verpflichtend: Geschichte und Religion.

Wer nach seinen Anlagen für eine weitere Tempellaufbahn infrage kam, wurde nach diesem Jahr seinen Eltern abgehandelt und in die Schola Sacra geschickt. Dort würden sie sich nach einem Jahr für einen bestimmten göttlichen Aspekt entscheiden, nach dem sie ihr Leben ausrichten wollten und nach insgesamt drei Jahren der Grundausbildung vom Disciplicus zum Qualificatus ernannt werden. Nach zwei weiteren Jahren würden sie, wie Anselmus selbst es vor nicht allzu langer Zeit getan hatte, die heiligen Eide schwören und den Titel Magister erhalten. Die Karriereleiter der Tempel ging von da an über den Artifex zum Academicus Amphorus oder Sacerdos Amphorus, was im Grunde eine Entscheidung zwischen einem zurückgezogenen Leben im Kloster und der Universität oder einer weltlichen Verpflichtung in den Tempeln bedeutete. In jedem leidlich großen Ort fand sich eine allgemeine Schola, die von Magistern geführt wurde. Darüber hinaus gab es in jeder Großstadt eine Schola Sacra unter der Leitung der Artifexe. Von da an führte der Weg in die großen Tempel und Universitäten der Hauptstädte jeder Provinz. Nur wer von entsprechendem Geblüt war, konnte von dort aus noch weiter bis an die Höfe der Adligen oder sogar bis an den Hof des Kaisers vordringen, als Sacerdos Superbus Amphorus.

Magister Anselmus seufzte still in sich hinein. Dies war ein Weg, den er nicht beschreiten konnte, da er nur der Sohn eines Nähers war. Aber wenn er es richtig anstellte, konnte er es vielleicht bis in die höheren Ränge der Universität schaffen. Er war schließlich erst zwanzig. Jedes Jahr bewarb er sich um einen der begrenzten Stipendiatsplätze, um seinen Artifex zu machen. Aber solange er keinen höherrangigen Fürsprecher fand, war es nahezu aussichtslos. Solange musste er seine Zeit noch mit diesen nervösen und lauten Bälgern irgendwelcher Leute vergeuden. Seine Studien der sakralen Theorie der Transzendentalität der Welten litten bereits sehr unter seinem Zeitmangel und den strapazierten Nerven.

Er ließ seinen Blick unwirsch über die Reihen gesenkter Köpfe kreisen. Viele der Kinder hatten in den ersten Wochen zu viel mit Heimweh oder ihrer mangelnden Disziplin zu kämpfen, um sich wirklich auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber schließlich musste es mal vorwärts gehen. Er fand einen besonders dicken Kopf in der Menge und stürzte sich auf ihn. „Richelm, sag du uns doch was du über die Götter weißt.“ Richelm war der Sohn eines Färbers, wenn Anselmus sich richtig erinnerte. Die meisten Stände beteten nur zwei oder drei Götter im Besonderen an. Die übrigen waren für sie abstrakte Größen, mit denen sie kaum in Berührung kamen. Richelm stand schicksalsergeben auf und begann mit unsicherer Stimme seine Aufzählung: „Es gibt den großen Baumeister Bobeian. Er ist der Herr über alle anderen und…und…“

„Ja?“, fragte Anselmus scheinbar geduldig.

„Und für ihn ist die erste Amphore.“

„Richtig. Wofür steht Bobeian?“

„Für Bauarbeiten.“, sagte der Junge schnell.

„Du meinst wohl für die höhere Kunst der Architektur und das Prinzip der allgemeinen Kreation und Inspiration aller schaffenden Berufsstände?“ In Anselmus Stimme schlich sich eine leichte Gereiztheit. Seit zwei Wochen besprach er die Ordnung und Aspekte der Götter mit den Kindern, aber es blieb einfach kaum etwas hängen. „Äh…ja. Genau.“, sagte Richelm matt.

 

„Also schön. Weiter. Bobeian wird durch die erste und höchste Amphore repräsentiert. Wen repräsentiert die zweite Amphore?“ Man konnte quasi hören, wie es im Kopf des Jungen arbeitete. „Da wäre zunächst der Schmied Rostrus, der aber auch von allen anderen Handwerkern angebetet wird. Und dann gibt es noch Vellan, den Bauern, der aber auch von Gärtnern und so angebetet wird. Und dann…dann gibt es noch den Wanderer, den alten Eremiten.“ „Falsch!“, unterbrach ihn Anselmus. „Der Eremit ist in keiner der drei Amphoren repräsentiert. Du kannst dich setzen.“ Erleichtert ließ Richelm sich auf seinen Stuhl zurückplumpsen, wie ein nassgeschwitzter Stoffballen. „Harren, kannst du uns sagen, wieso das so ist?“ Ein kräftig gebauter Junge mit klarem Blick erhob sich ohne zu zögern. „Weil der Wanderer auch der verlorene Gott genannt wird. Er hat die Gemeinschaft der anderen Götter verlassen, um unerkannt zwischen den Welten umherzuziehen. Darum ist Bobeian, der Erschaffer, auch zum obersten Gott geworden. Vorher führte Erebur, der Eremit sie an.“

„Heißt das, wir beten den alten Eremiten nicht mehr an?“

„Nein, Magister! Wir würden keinem der großen Götter den Respekt verweigern. Aber weil keiner weiß, wo sich Erebur aufhält, huldigt man ihm an kleinen Schreinen an Wegen oder an besonderen Landmarken.“ Anselmus nickte zufrieden und bedeutete Harren sich wieder zu setzen. Der Junge war vielversprechend.

 

Anselmus nahm seine Bahn zwischen den Reihen der Schüler wieder auf. „Also weiter. Welche Götter finden sich neben Rostrus und Vellan noch in der zweiten Amphore? Liam, weißt du es?“ Ein unscheinbarer Junge mit Mausgesicht erhob sich und sprach mit dünner Fistelstimme. „Dort sind noch Kelfir, die Jägerin und Belor, der mächtige Krieger.“, seine Augen blitzten bei ihrer Erwähnung auf, wie die einer Ratte, die an einen Kadaver denkt. „Aber auch der Seefahrer Ravenn und Alyr, die Heilerin.“ Anselmus wartete kurz, aber es kam nichts weiter, also sagte er: „Richtig. Neben den beiden wichtigsten aus der zweiten Amphore, Silen, dem gelehrten Wissenssucher und Atli, dem Advokaten und Rechtsprecher, gibt es all diese Götter in der zweiten Amphore. Und wer ist in der dritten Amphore und warum?“ Diesmal meldete sich ein Junge freiwillig. Anselmus konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, also bedeutete er ihm lediglich mit der Hand sich zu erheben. „Die dritte Amphore oder auch, die gebrochene Amphore, steht für die gefallenen Götter. Dort ist Viviana, die Göttin der Liebe. Sie ist wahnsinnig geworden, als der Eremit sie verlassen hat. Und Marduk der Alchimist, der aber die verbotene Magie in die Welt gebracht hat und darum von Bobeian verstoßen wurde. Auch Amrhan, der Barde. Die Götter trauern um ihn, weil er im großen Krieg gegen die Geister von Orakon schwer verwundet wurde und sich in den Ledhesee stürzte.“

„Das hast du sehr richtig aufgesagt…Du darfst dich setzen.“, Anselmus räusperte sich. „Darum ist die dritte Amphore gebrochen und darum wird alles, was diesen drei Göttern geopfert wird zerstört, bevor wir es in die Amphore geben. Als Ausdruck der Trauer.“ Das Ergebnis war im Endeffekt doch viel besser, als Anselmus es erwartet hatte. Zufrieden kehrte er an sein Lehrerpult zurück und begann die nächste Lektion.

Eine Tirade bei Mondschein

Das kleine Ruderboot mit den vier düsteren Gestalten darin wurde zu Wasser gelassen. Zwei von ihnen ergriffen die Ruder und steuerten das Boot auf eine kleine Felsgruppe zu, die in einiger Entfernung aus der ruhigen See ragte. Das Mondlicht brach sich an der schwarzen Wasseroberfläche. Der dritte Mann wandte sich dem vierten zu, der noch etwas jünger war als seine Begleiter. „Also, hör zu, Yoren, der Geist, dem wir gleich begegnen werden, wird auf keinen Fall so sein, wie du es erwartest. Die Biester überraschen einen jedes Mal. Aber egal ob er schrecklicher oder harmloser wirkt als in deiner Vorstellung: Piss dir nicht ins Hemd oder bilde dir ein, er wäre irgendwie freundlicher, nur weil er ein nettes Gesicht hat. Um diesen Kampf zu überleben ist es wichtig, dass wir vier uns aufeinander verlassen können, hörst du?“ Der junge Mann, der als Yoren angesprochen wurde, nickte ernst. Ein feiner Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn, aber er traute sich nicht, ihn wegzuwischen, aus Sorge, die anderen würden ihn für feige halten.

 

„Du bist noch neu in unser‘m Geschäft, deswegen sag‘ ich dir das nochmal, bevor du uns gleich reinreitest. Das soll keine Beleidigung sein. Wir alle ha‘m irgendwas beim ersten Mal versaut. Aber weil das hier ein größerer Brocken is‘, geh‘n wir das jetz nochmal durch. Wäre doch beschissen, gleich beim ersten Mal draufzugeh‘n.“, Rasmus mit dem widerlichen Narbengesicht grinste ihn keineswegs einfühlsam an. Yoren presste nur die Lippen zusammen und schwieg. Die anderen beiden ruderten. Ihre Gesichter lagen unter ihren Kapuzen im Dunkeln. „Vor einiger Zeit hat der Geist dieser unterseeischen Felsklippen hier sich drauf verlegt, bei Flut Schiffe aufs Riff zu locken und die armen Seelen drauf zu fressen. Die Seeleute hier sind ausgeflippt, als jede Woche Leichenteile angespült wurden und in ‘nem Monat schon das dritte Schiff verlor‘n ging. Sie weigerten sich, den Hafen zu verlassen, drum hat der Baron ‘n feines Sümmchen für uns springen lassen. Wir ha‘m es also mit ‘ner heimtückischen, blutrünstigen Bestie zu tun. Wir werden sie töten und dann sehn, ob sie in ihrem nächsten Leben ‘n besseres Benehmen an den Tag legt.“ Rasmus spukte aus. „Wenn du mich fragst, ist es ‘ne Schande, dass man die Viecher einfach nich‘ ausgerottet kriegt. Früher oder später machen die immer Ärger. Aber was soll‘s, so kriegen wir auf jeden Fall Aufträge, da können die Priester noch so sehr gegen uns wettern. Von wegen Gottvertrauen, so’n Scheiß! Wenn dir ‘n Geist erst einmal so richtig ans Bein pissen will, dann helfen die Götter dir da auch nich‘ weiter. Drum gibt’s auch Abschaum wie uns!“ Seine Zähne blitzten im Mondschein auf. Die große Zahnlücke im oberen Gebiss schadete seinem gefährlichen Aussehen nicht.

 

„Gegen Geister kann man kämpfen, man kann sie verletzen und töten. Dann dauert es, bis sie wiedergebor‘n werden und wieder ihre volle Stärke erlangen, das heißt, man hat erst mal Ruhe vor ihnen und ihren lästigen Naturerscheinungen. Aber rechne damit, dass sie zäher sind als wir. Außerdem können sie scharfe Zähne und Klauen hab‘n. Manche speien Gift oder halten and‘re Überraschungen für dich bereit. Außerdem is‘ es oft hilfreich, wenn man im Kampf mit denen, ihr Wesen mitdenkt. Der Geist, gegen den wir gleich antreten werden, is‘ ‘n Geist des Meeres, das heißt im Wasser wird er wendiger und stärker sein als an Land. Drum versuchen wir, ihn auf die Felsen zu locken und danach nich‘ mehr ins Wasser zu lassen. Manche Meeresgeister können drüber hinaus Fische und anderes Getier zu Hilfe rufen oder das Wasser selbst gegen dich aufbringen. Das verdammte Fischgesicht hier is‘ sehr stark, drum sind wir dieses Mal zu viert. Also halt‘ deine Blase unter Kontrolle und mach uns keine Schande!“ Rasmus vergewisserte sich mit einem Blick, dass der Junge verstanden hatte. Dann wandte er sich endlich ab und schwieg. Von den mondbeschienenen Felsen her kam ein unheilverkündendes Grollen… 

Ein junger Mann, ein alter Mann und ein Baum

In einer dunkelfeuchten Höhle unter den hochragenden Wurzeln eines mächtigen alten Nohua-Baumes saßen der junge und der alte Mann. Nur ein kleines Ölflämmchen erhellte ihre so unterschiedlichen Gesichter. Sie waren bereits vor Morgengrauen schweigend in die Eingeweide des Baumes gegangen und hatten sich vorbereitet. Nun nahm der junge Mann eine schlichte Tonschale aus den Händen des alten Mannes entgegen und trank ohne zu zögern daraus. Der Keal des alten Baumes wusste, was er da trank. Es war das Baleo, das Geistwasser, welches den Menschen einen Weg durch die Schatten in seine Welt öffnen würde. Hätte der Baum in dieser Gestalt aufmunternd blinzeln können, hätte er es gewiss getan. So wartete er jedoch nur in der Stille auf das, was da kommen musste. Ein paar Minuten vergingen, dann verdrehte der junge Mann plötzlich die Augen. Sein nackter Körper begann in stummen Krämpfen zu zucken. Einige Minuten lang wand sich der arme Mensch in röchelnder Agonie, bis er endlich wieder ruhig wurde. Sehr ruhig. Es war ein gutes Baleo, was der Alte da gemischt hatte, denn alles ging vergleichsweise schnell vorüber. Der Keal des Baumes wartete zusammen mit dem Alten, während sein Anderbild den jungen Mann auf der Schattenseite der Welt in Empfang nahm…

Nach vielen Stunden zuckte der Körper Uralaos erneut. Diesmal war es aber mehr ein Zucken, wie es einer im Schlafe tut, wenn er im Traum meint, über einen Stein zu stolpern. Er riss die Augen weit auf. Feine Äderchen waren darin geplatzt und färbten sie blutig rot. Sein Blick war unstet und irrte in dem Versuch, sich zurecht zu finden, schnell von links nach rechts. Sein Atem ging schnell und stoßweise, als wäre er lange gerannt. Sein Lehrer Bunta gab leise beruhigende Laute von sich, näherte sich seinem Schüler vorsichtig und bedeckte dessen wie in Kälte zitternden Körper mit einem warmen Tuch. „Du hast es überstanden, Uralao.“, murmelte er. „Deine erste Prüfung als Schamane hast du bestanden, denn du bist erfolgreich aus der Welt der Keal, der Geister, zurückgekehrt. Weder der Baleo noch ein dir feindlich gesinnter Keal haben dir den Andertot beschert. Deine Essenz ist in deinen Körper zurückgekehrt und beide sind nun stärker und weiser als zuvor.“ Er half dem jungen Mann, sich aufzusetzen, und strich ihm solange über den Rücken, bis er sich wieder beruhigt hatte. Nachdem er einige Schlucke klares Wasser zu sich genommen hatte, führte Bunta ihn aus der Höhle ins langsam sinkende Sonnenlicht. Sie atmeten die frische Luft in tiefen Zügen, denn die Höhle war stickig gewesen. Dann erkletterten sie den Stamm des alten Baumes bis zu einem hoch gelegenen breiten Ast und setzten sich auf diesem nieder. Schließlich forderte Bunta den Jungen auf: „Und nun erzähl. Was ist dir in der Welt der Keal begegnet?“ Und Uralao erzählte gehorsam, während der Alte und der Baum in Ruhe zuhörten…

„Die Welt, die in den Schatten liegt, erschien mir erst wie die unsere…aber eigentlich ist sie ganz anders. Alles dort ist…irgendwie mehr, als es hier ist. Lebendiger, in Bewegung…ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Alles was hier ist, ist auch dort und doch mehr als es hier ist.“

„Das ist so, weil es die Welt der Keal ist. Dort weilt ihre Essenz, das, was sie wirklich sind, während wir hier nur ihre Schattenkörper sehen. Deswegen ist ein Keal, der in dieser Welt stirbt, auch niemals wirklich tot. Sein Schatten kehrt zurück zu seiner Essenz, bis er erneut in diese Welt geboren wird. Keal sind immer zweigestaltig, während wir Menschen nur eingestaltig sind. Unsere Essenz und unser Körper sind von der Geburt bis zu unserem Tod eins, es sei denn, wir trinken eine stärkere Form des Baleo. Sag, was hast du noch erlebt, Uralao?“ Der Junge überlegte und strich dabei liebevoll über den Ast, auf dem er saß. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, während er weitersprach: „Ich habe den Keal dieses Nohua-Baumes getroffen. Er hat mich auf der anderen Seite begrüßt und auf mich Acht gegeben.“ Bunta nickte. „Dieser Baum ist ein Freund unseres Stammes. Unsere Leben sind schon seit vielen Jahren miteinander verbunden. Unsere Hütten sind in den Kronen seiner Ableger gebaut. Was hat er dir gezeigt?“

„Er hat mir erklärt, wie es ist zu leben, zu sterben und erneut zu leben, wenn man, anders als wir, seine Erinnerungen behält. Man bleibt eins mit sich, auch wenn man jedes Leben anders lebt und empfindet.“ Uralao sah Bunta mit strahlenden Augen an. „Es muss großartig sein! Jedes Leben bewusst zu leben. Jeden Tod bewusst zu sterben.“ „Diese Form der Existenz ist uns Menschen leider verwehrt, Uralao. Alles was wir Menschen tun können, ist aus jedem unserer Leben das Beste zu machen. Aber wir werden immer jemand anderes sein.“

 

Uralao schwieg eine kleine Weile, während der Himmel sich über ihnen endgültig rot färbte. Schließlich sagte er: „Ich glaube, ich habe die Stimmen einiger großer Geister hören können.“

„Welcher Geister?“

„Da war ein tiefes sprudelndes Murmeln in der Erde. Ein fließendes Lied in der Tiefe.“

„Das war die Stimme der Ninurta, der unterirdischen Wasser. Sie speist alle Flüsse und Seen, die ihre Kinder sind. In Bildern malen wir Menschen sie oft als ein schwarzes Krokodil.“

„Dann war da ein Zischen im Himmel. Ein Rascheln im sich bewegenden Licht.“

„Das war Shamash, der Leuchtende. Er ist die große Sonne am Himmel. Wir gedenken seiner als goldene, zusammengerollte Schlange.“

„Und dann war da noch ein leises Kinderlachen im Wind. Es klang glücklich, aber auch ein wenig übermütig.“ Bunta lächelte. „Das war das Lachen Sinushs, des großen Windes. Er ist erst vor kurzem neu geboren worden, das hat uns der große Sturm vor drei Monaten gesagt. Wir erinnern an ihn durch den Silberfalken. Denn auch wenn jedes Leben eine neue Form mit sich bringt, brauchen wir Menschen beständige Bilder von den Keal, um uns ihrer zu gemahnen.“

„Alami hat mir erzählt, dass die Keal im Norden andere Namen und Gestalten haben. Das hat sie von dem Nordling erfahren, der seine Götter zu uns bringen wollte. Der, der aussieht wie ein bleicher beleidigter Käse.“ Das Lächeln seines Meisters verschwand nicht, als er weitersprach. Es wurde nur eine Spur zynisch. „Wir Menschen machen uns immer die Bilder von den großen Keal, die wir am besten verstehen. Mich wundert nur, dass die Kutte sich überhaupt noch an sie erinnert.“

„Er beleidigt die Keal, Meister. Ich denke, sie würden sich freuen, wenn wir ihnen sein verräterisches Herz opfern würden.“

„Dafür ist es noch nicht Zeit. Auch wenn sie Scharlatane sind, die Götter haben das Volk des Mannes stark gemacht. Solange sie so stark bleiben, müssen wir lernen, mit ihnen zu leben, Uralao. Die Keal lehren uns, dass alles, was beginnt, auch endet. Wir müssen nur warten. Unsere Zeit wird kommen.“ Eine Weile schwiegen sie miteinander, der Alte, der Junge und der Baum. Sie schwiegen, bis das Licht des Shamash erloschen war und Nims rundes Gesicht am Himmel erschien. „Du hast heute viel gesehen und viel gelernt, Uralao. Lass uns nun ins Dorf zurückkehren.“ „Ja, Meister.“

Und so verließen die beiden Menschen den Nohua-Baum.

Wie Katz' und Hund

Die Auseinandersetzung auf dem übervollen Marktplatz in Sarr’ur hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Rakhshik sheik al’Mambra, das Oberhaupt einer diasyuthischen Karawane, war mit dem diavonischen Händler Mohan Khatun aneinandergeraten. Worum es dabei ging war Bahiti im Grunde egal. Diavonen und Diasyuth gerieten ständig miteinander in Streit. Sie selbst stammte aus Ordobi Dahar und hatte mit deren Querelen nichts zu schaffen.  Doch ihr gefiel das schlechte Gerede über ihren Handelspartner und Freund nicht, das nun zweifellos entstand. Tadelnd hob sie eine Augenbraue, als sie Mohans zerschlagenes Gesicht betrachtete, während er sich ihr gegenüber in der kleinen Teestube auf die Kissen sinken ließ. In der Schlägerei hatte er seine Gesichtsverhüllung verloren.

 

„War das wirklich nötig, Mohan?“, fragte sie mit ihrer dunklen Stimme vorwurfsvoll. Der süße Rauch ihrer Pfeife umgab sie dabei wie ein Schleier. „Das verstehst du nicht, Bahiti. Diese verlausten Kameltreiber müssen lernen, wo ihre Grenzen sind. Sonst tanzen sie einem nur auf der Nase herum!“ Bahiti konnte ein spöttisches Lächeln nicht zurückhalten. „Du hast recht. Ich verstehe es wirklich nicht. Was ist das mit euch Diavonen und den Diasyuth, dass ihr es zusammen nicht länger als drei Minuten in einem Raum aushaltet, ohne dass ihr einander an die Gurgel geht?“ Mohan lachte herzlich. „Man könnte sagen, dass ist nun einmal unsere Kultur. Nein, wahrscheinlich sogar unsere Natur. Wir sind einfach zu verschieden.“

„Mal ehrlich, Mohan. Ich kann eure Völker eigentlich kaum auseinanderhalten, bis ihr euch nicht vorstellt. Zugegeben, ihr Diavonen verschleiert eure Gesichter in der Öffentlichkeit und die Diasyuth nicht. Aber sonst tragt ihr dieselbe Kleidung, eure Krieger und Schamanen tragen dieselben Tätowierungen, ihr benutzt dieselben Redewendungen und esst dieselben Sachen. Was bitte soll dieser große ‚natürliche‘ Unterschied sein, dass ihr ständig für Skandale sorgt?“ Mohan schien einen Moment zu überlegen und nippte an seinem dampfenden Jasmintee. „Unterschiede gibt es viele… Zum ersten lässt deine Beobachtungsgabe etwas nach, Bahiti. Wie dir offenbar entgangen ist, tragen unsere Krieger und Schamanen die Linien der Macht rechts, auf der Verstandesseite des Körpers. Ihre Leute dagegen auf der linken, also der Herzseite. Das erklärt auch, warum sie so unüberlegt und hitzköpfig sind.“ Der Diavone hatte sich beim Reden bequem in die Kissen zurückgelehnt und schien sich offensichtlich für dieses Thema zu erwärmen . Beinahe heiter setzte Mohan seine kulturellen – Verzeihung – 'natürlichen' Betrachtungen über Diavonen und Diasyuth fort.

 

„Die Unterschiede zwischen uns haben darüber hinaus sehr tiefe Wurzeln.“ Mohan stellte seinen Tee wieder zur Seite, um die Hände zum Gestikulieren nutzen zu können. „Zum Beispiel unsere Lebensweise! Weil die diasyuthischen Dunggesichter so faul und behäbig sind, bleibt diese Schlangenbrut Zeit ihres Lebens in Familienverbänden. Und das über Generationen hinweg. Höchstens zehn Familien bilden einen Stamm, Bahiti, höchstens zehn! Kein Wunder, dass sie so verkommen und verblödet sind. Das kommt vermutlich alles vom Inzest!“

„Eure Stämme bestehen doch ebenfalls aus höchstens zehn Familien, Mohan.“

„Aber nicht unverändert über so lange Zeit hinweg. Ach lass das mit deiner Augenbraue Bahiti! Es ist so: Bei UNS verlassen die Kinder mit höchstens sechzehn ihre Familie und ihren Stamm. Sie gehen in die Welt und finden sich zu eigenen, neuen Stämmen zusammen. Freundschaft und gemeinsame Ziele sind das, was diavonische Stämme verbindet. Nicht Blut. In diesen bunt gemischten neuen Stämmen finden sich mit der Zeit auf ganz natürliche Weise neue Familien zusammen. Darum ist unser Blut auch immer frisch. Das ist doch wirklich ganz etwas Anderes."

"Und wenn du noch mehr Beweise willst, dass die Diavonen den Diasyuth überlegen sind, dann gehe zurück in die Urgeschichte unserer Völker! Unser Volk geht zurück auf Avon, den ersten Sohn des großen Windgeistes Sinush. Die Diasyuth dagegen stammen von Asyuth ab, seinem zweiten Sohn. Beide wollten die Anerkennung ihres Vaters erlangen. Also machten sie ihm jeder ein Geschenk. Avon erschuf mit seiner Gabe die Gletscher und Gipfel des Kandris-Gebirgsrings und schmückte ihre Tiefen mit den Gaben seines Paten Orakon. Juwelen und Erze funkeln seither in seinem Innern. Asyuth jedoch, dem nichts weiter einfiel, nahm den Staub, der von der Arbeit seines Bruders abfiel und schuf damit die Wüste.“, Mohan brach in brüllendes Gelächter aus. „Die Wüste, Bahiti! Nutzlose Mengen an Sand!“

Mohan amüsierte sich genug für zwei. Bahiti befand darum, dass sie in sein Lachen nicht einstimmen musste, auch wenn es noch so ansteckend war. Was sie ihm ebenfalls hinter ihrem sympathischen Lächeln verbarg, war der Umstand, dass sie sich schon morgen mit einem anderen, ihr freundschaftlich verbundenen Handelspartner treffen würde. Sein Name war Mustafa sheik al’Rhazar und er war ein Diasyuth. Sie war sich sicher, dass er einige dieser Aspekte, die Mohan ihr soeben eröffnet hatte, anders beurteilen würde…

Die Stimmen des Nordens

Vor ungefähr einem Monat gab es einen Überfall auf einen Handelsposten der Eudokia in Berbkaa. Alle Menschen, die sich dort befanden, wurden entweder getötet oder verschwanden spurlos. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und als sie schließlich auch den Norden erreichte, ging sie an keinem der wichtigsten nördlichen Würdenträger und Fraktionen vorbei...

 

Die erste Stimme: "Ordo Tenebrarum"

Die Feder kratzte über das gute Papier. So scheint es, dass die Bewohner des Südens uns nicht allesamt feindlich gesonnen sind. In den Dachhäusern der Swelu, so berichtet Magister Iolanis, - das Kratzen hielt inne. Einen Augenblick lang schwebte die Feder zögerlich, bevor ihre Besitzerin sie zurückzog, um Tropfen zu vermeiden. Schon wieder diese Glocken! Seit Tagen schon schallten sie dem Empfinden nach unentwegt, seit dem Augenblick, als die Nachricht von dem Angriff in Berbkaa einging. Es war entnervend. Wie soll ich da auch nur ein Schundgedicht erfassen, ganz zu schweigen von Reiseberichten von Magistern Vectores und Venatrixes! Vor allem weil diese Seefahrer und Jäger auch keine Meister der Schreibkunst sind… Artificis Doctus Alanna seufzte, reckte sich und ergab sich ihrer Ablenkung. Noch nicht einmal eine Meisterin von Silen konnte sich ohne Pause konzentrieren, schon gar nicht bei solchem Lärm. Fast unwillkürlich schlossen sich ihre Augen. Bilder von muskulösen südlichen Kriegerinnen liefen leichtfüßig in ihre Gedanken und sie schwelgte einen kurzen Moment in der anregenden Fantasie, bevor sie sich resigniert wieder dem Hier und Jetzt widmete. Der Ordo Tenebrarum würde früh genug die Geheimnisse der südlichen Geisterkräfte aufdecken – und die ihrer schönen Besitzerinnen natürlich…

Die zweite Stimme: "Das kaiserliche Militär"

 

Turmarch Claudius Caringata ballte die Fäuste. Die Nachricht war zwei Tage alt. Zwei Tage! Früher hatte man es nicht für nötig gehalten, ihn darüber zu informieren, was diese Barbarenschweine da angerichtet hatten. Offensichtlich ein dreister Überfall auf einen Handelsposten in Berbkaa. Und inzwischen waren die Urheber dieses Verbrechens natürlich über alle Berge, dank der Inkompetenz dieser Stümper von Eudokianischen Söldnern, dieser Möchtegern-Soldaten! Claudius hielt inne. Vielleicht hatte die Sache ja auch etwas Gutes. Womöglich würde der Kaiser nun bereit sein, seiner Armee wieder die Befugnisse zu übertragen, in den Provinzen für Ruhe zu sorgen, wie es ihre Aufgabe seit jeher hätte sein sollen. Er legte die Stirn in Falten. Es musste schnell gehandelt werden. Der Bericht, obgleich spärlich und lückenhaft, ließ ihn auf einen gut geplanten, schnell und hart ausgeführten Angriff mit maximaler Effizienz schließen. So etwas hatte Vorbildcharakter. Wenn man zögerte, und die Haustruppen der Eudokier waren ja schon jetzt überfordert, konnte sich das zu einem Aufstand der Provinzen ausweiten. So weit durfte man es auf keinen Fall kommen lassen. Claudius griff zur Glocke, um seinen Adjutanten zu rufen und ließ sich von seinem diavonischen Diener, der mit gesenktem Kopf auf Befehle gewartet hatte, Wein nachschenken.

Die dritte Stimme: "Die Familie Maecer"

Die kleine, aber durchaus feine Galeere schwankte auf den Gewässern rund um die nominelle Hauptstadt der Provinz Zirdán. Der ehemalige Handelsposten Kaloe war mittlerweile zu dem wichtigsten Knotenpunkt der Küstenregionen geworden, weshalb das Haus Maecer seinen Sitz auch hier hin verlegt hatte. Gregorus Maecer, Oberhaupt der Familie, ruhte ausgestreckt auf seinem Diwan und besah sich im fahlen Licht einiger Kerzen das Dokument, welches ihm eben zugestellt worden war. “Ausgezeichnet...” Der stämmige Mann hatte ein grobschlächtiges Gesicht, auf dem dieses dunkle Grinsen wirklich furchtbar aussah. Dabei wirkte er mit seinem kahlrasierten Kopf und der mehrfach gebrochenen Hakennase wie ein besonders alter und hässlicher Raubvogel. “Harpagos!” rief der Mann aus. Ein junger, dürrer Mann huschte herein. “Nimm dir Federkiel und Papier...ich diktiere.” Gregorus richtete sich schwerfällig auf und goss sich vom Wein ein, während der Schreiberling nach seinen Utensilien fischte.  “Verehrte Theodora, aus dem Haus Eudoker, mit bedauern habe ich die Kunde von der schrecklichen Tragödie in Berbkaa erhalten…“ Gregorus setzte den Kelch an die Lippen und stürzte den Wein in einem Zug hinab, wobei ihm die dunkelrote Flüssigkeit wie Blut vom Kinn troff.

Die vierte Stimme: "Die Beamte des Kaisers"

Tertius massierte sich die pochenden Schläfen. Seine Kopfschmerzen wollten einfach nicht nachlassen. Aber wie sollten sie das auch? Immerhin war er noch immer von Idioten umgeben. Sie saßen am Tisch, um die neusten Nachrichten aus dem Süden zu besprechen. Warenlisten, Strafregister, Wetterberichte... Langweiliger Alltag. Doch die Nachricht des Angriffs auf Berbkaa hatte die Stimmung schnell kippen lassen. Tertius schloss die Augen und kniff sich in den Ansatz seiner Nase. Der Tumult der anderen half nicht im Mindesten – weder der Situation noch seinen Kopfschmerzen. Aber was konnte man erwarten, wenn man Adelige ohne passende Ausbildung als Vorgesetzte hatte? Pfeifen, allesamt! Und erst ihre Forderungen, lächerlich! Einmarschieren? Das war Aufgabe des Militärs und Entscheidung des Kaisers. Rache? Keine gute Idee. Aber bring das mal Eudokern bei. Sie würden noch so enden wie Cornelius Andronikus. Gebete und Gedenkminuten? Unnütze Sentimentalität! Nach einer Weile ließ das aufgebrachte Gebrüll nach und Tertius konnte versuchen, die edlen Dummköpfe wieder in die richtige Richtung zu lenken.

Die fünfte Stimme: "Die Liga von Fermaton"

Lucas‘ Hand zitterte, während er die Botschaft las. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Wilden aus dem Süden nicht die Mühe wert waren, die man auf sie verschwendete – quod erat demonstrandum, wie es der Gründer der Liga wohl gesagt hätte. Die Eudoker Truppen hatten es fast schon verdient – welche verqueren Prioritäten ließen sie mitten im südlichen Nichts Festen aufbauen, wenn die Leute hier im Norden Hilfe brauchten? Seine Zähne knirschten, als er sich umsah. Die Nachricht hatte ihn bei der Inspektion eines der unzähligen Weiler Everenns erreicht, die von den Hungersnöten des Landes mit am ärgsten getroffen worden waren. Einen kurzen Augenblick übermannte ihn die Wut fast, aber er atmete tief durch und zwang sich, seine Gedanken über mögliche Gönner fortzuführen. Auf wen wäre Verlass? Die Eudoker standen schon vor dem Angriff nicht gut da. Sie hatten nicht verhindert, dass die auffällig früh geworfenen Kinder der südländischen Prinzessin am Hofe des Kaisers Akzeptanz gefunden hatten – hah, sie hatten noch nicht einmal eine dahergelaufene Schlampe niederen Blutes davon abhalten konnten, sich einen ihrer Söhne zu krallen! Dann also doch die Kirche? Sie hatten die heilige Pflicht, zu helfen. Leider hatten sie bisher auch die weltliche Verschlagenheit bewiesen, ihre investierten Ressourcen auf ein Minimum zu begrenzen. Der Familie Maecer wiederum sagte man brutale Methoden nach – vielleicht genau das, was in Everenn nötig war, um das kriminelle Chaos zu tilgen, was die Probleme noch weiter verschärfte, wäre da nur nicht der Verdacht, dass die Maecer selbst in der Vergangenheit aus solchem Chaos Profit geschlagen hatten. Er seufzte. Eine klägliche Auswahl an Verbündeten, doch in der Not fraßen die Geister auch Fliegen, so hieß es doch…

Die sechste Stimme: "Der Ordo Tutelae"

Artifex Sanara Leonatus unterdrückte den leichten Würgereiz. Auch nach zwölf Jahren, in denen der Meister von Alyr, der Heilerin, als Spezialist bei kniffligen Gewaltverbrechen hinzugezogen wurde, bereitete der Anblick dessen, was Menschen einander antun konnten, Übelkeit. Vor ihm ausgebreitet lagen detaillierte und farbige Zeichnungen einiger Opfer des Angriffs in Berbkaa. Einige waren nur noch blutige Fleischklumpen, andere waren offenbar gehäutet worden – Leonatus betete, dass dies erst nach dem Eintritt des Todes erfolgt war – doch was ihn wirklich bedrückte, waren die Brandmale. Alle hatten die perfekte Form einer Hand, allerdings nicht in stets nur einer Position, wie sie etwa durch eine erhitzte Eisenform evoziert würden, sondern immer so, als hätte sich eine tatsächliche Hand den Opfern auf die Haut gelegt. Nach einer Weile seufzte er und rieb sich die müden Augen. Diese Opfer waren Inhaber wichtiger Positionen in dem eudokischen Handelsstützpunkt gewesen und dem Augenschein nach vor ihrem Tod gefoltert worden. Er blickte zu dem Soldaten hoch, der immer noch in derselben Position verharrte, die er nach seinem Eintritt angenommen hatte. „Euer Befehlshaber hat recht mit seiner Vermutung.“, sagte Leonatus. „Solche Wunden können nur durch Geistermagie entstanden sein. Ein Anhänger Marduks hätte sich dafür die eigene Hand verbrennen müssen. Wir suchen also mindestens einen mächtigen Begabten. Ich werde diesen Bericht an den Ordo Tutelae weiterleiten. Der Rat des Ordos wird entscheiden, in welchem Umfang euch Unterstützung von Seiten der Tempel in den Süden geschickt wird.“ Wieder schloss Leonatus seufzend die Augen, doch er wusste, dass es bereits zu spät war. Die schrecklichen Bilder hatten sich bereits unwiderruflich in seine Erinnerung eingebrannt.

Die siebte Stimme: "Das Haus Valenius"

Egeas Valenius erwies den Statuen Amrhans, Vivianas und Marduks in ihren Schreinen im Tempel des Ordo Muneris seinen Respekt. Die zahlreichen armseligen Gestalten in der Haupthalle griffen ehrfurchtsvoll nach seinem Mantel, während er an ihnen vorbeischritt. „Fasst du den Valeniern am Saum, berührst du ein Stück vom Glück“, hieß es im Volksmund. Egeas lächelte ihnen und den überarbeiteten, müde dreinblickenden Priestern und Priesterinnen zu, doch war er heute nicht ganz bei sich. Vieles ging ihm zurzeit im Kopf herum. Da war der Überfall in Berbkaa – doch was erwarteten die Eudokia auch, wenn sie die Interessen ihres Hauses den Launen der südlichen Barbaren auslieferten? Die oberste Verpflichtung des Adels lag immerhin bei seinem eigenen Volk! Egeas schüttelte eine trockene, kalte Hand, deren Haut so dünn wie Papier schien. Da war aber auch der Bericht seines Bekannten Aegis von seinem Besuch am Hof von Cornelius Andronikus, dessen Exil ihm wohl gar nicht gut tat. Er hatte sich ungewöhnlich verzweifelt und besorgt, beinahe schon manisch gezeigt, und Aegis gebeten, für ihn ein gutes Wort beim Kaiser einzulegen. Hah! Dieses Grab hatte Cornelius sich beim Friedensschwur vor zwei Jahren selbst geschaufelt. Wenn die Valenier endlich ihren verdienten Herzogstitel von Terén bekämen, würde Egeas der erste sein, der den Grabstein setzen würde. Sein Lächeln wurde bei diesem Gedanken eine Spur freundlicher. Zeit, sich seinem eigentlichen Besuchsgrund zuzuwenden. Sein Blick fixierte auf dem Ausweg kurz einen abgezehrten und alt wirkenden Mann. Als er sich ihm näherte, erlitt der Bettler einen schlimmen Hustenanfall. Egeas fing ihn auf, bevor er zu Boden stürzen konnte, und half ihm erneut auf die Beine. Mit tragender Stimme wies er einen Alyrpriester an, sich den armen Leidenden näher anzusehen und drückte ihm gleich drei Münzen in die Hand, bevor er sich rasch zum Ausgang begab. Endlich im Freien zog Egeas ein kleines Bündel aus einer versteckten Tasche in seinem Mantel. Bei der kleinen Szene im Tempel war niemandem die Übergabe aufgefallen, erst recht nicht nach dem lauten Erstaunen, den seine Großmut hervorgerufen hatte. Er entfaltete ein paar schmuddelige Papiere, die in der gewohnten kaum leserlichen Handschrift bekritzelt waren. Von den wenigen Flüsterern, die lesen und schreiben konnten, konnte man nicht auch noch Schönschrift verlangen. Die übrigen Berichte zu verstohlenen Aktivitäten ignorierte er – nur die zerknitterte Seite, die mit auffällig sauberer Schrift bedeckt war, interessierte ihn. „Ein Gespenst geht um im Reich! Ein faulig-süßes Gespenst, das die Mächtigen befällt zum Schaden der Gemeinen…“ Als er in den lästerlichen Zeilen den Namen seiner Familie las, spürte Egeas eine lodernde Wut in sich aufsteigen.

Die achte Stimme: "Das Haus Eudokia"

Der Angriff auf Berbkaa war nur eine Frage der Zeit gewesen. Theodora hatte damit gerechnet. Die Meldungen ihrer Spione und ihrer Informanten waren zwar nicht eindeutig, aber dennoch sehr vielsagend. Dass es ausgerechnet Berbkaa traf und das Massaker solche Ausmaße angenommen hatte, setzte allerdings auch der Herzogin zu. Da sie sich nun sicher war, dass es zu noch mehr Anschlägen gegen die südlichen Stützpunkte ihrer Familie kommen würde, hatte sie sich auf direktem Weg in den Kaiserpalast begeben. Theodora hatte Konstantin nun beinah seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Natürlich wurde sie immer noch zu den offiziellen und auch zu den meisten inoffiziellen Festen und Gesprächen geladen. Doch wo sich der Kaisersohn früher Rat bei ihr geholt hatte oder sich ihre Unterstützung sichern wollte, vertraute er nun offenbar auf die Einflüsterungen seiner Frau. Theodora wartete im Augenblick im Vorzimmer der kaiserlichen Gemächer. Dicke Teppiche und Wandbehänge sorgten für eine lauschige Atmosphäre, ebenso wie der prasselnde Kamin. Plötzlich wurde die Stille durch lautes Kindergeschrei durchbrochen und eine Hebamme betrat durch die Seitentür den Raum. Die Frau hatte sichtlich mit dem Säugling zu kämpfen, der vor sich hin jammerte. „Herrin!“ rief sie aus, als sie der Herzogin gewahr wurde. Die Eudokerin zeigte nur ein spitzes Lächeln und bewegte sich elegant auf die Hebamme zu. „Nun, wen haben wir denn da?“  Der Säugling verstummte sofort, als sich Theodora in dessen Blickfeld beugte, und sah die Herzogin mit großen Augen an. Noch bevor sie dem kleinen Menschlein einen Finger entgegenstrecken konnte, drang eine schneidende Stimme durch den Raum. Die Herzogin wirbelte herum und sah sich der Prinzessin, Amirah, gegenüber. „Amme, ich habe Euch aufgefordert, das Kind sofort zu mir zu bringen!“ Die Hebamme eilte taktlos an der Herzogin vorbei, welche ihr auf schnellem Schritt folgte. „Ich warte nun schon seit geraumer Zeit, Hoheit. Euer Gatte muss von meinem Ansinnen erfah...“ Doch weiter kam Theodora nicht. Amirah schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. „Konstantin verbringt Zeit mit seiner Familie. Fragt seinen Sekretär nach einem neuen Termin.“ Und so schnell wie die Südländerin aufgetaucht war, so schnell war sie wieder verschwunden. Theodora blieb, wie vom Blitz getroffen, zurück. Ihre Finger hatten sich in den Stoff ihres Kleids gekrallt. Wütend starrte sie die Tür an. „Nun, wenn du mir nicht helfen möchtest Konstantin, dann wirst du sehen was du davon hast...“

Zur Gründung des Kaiserreichs
Hören statt lesen!

Der Tisch war voller Papier, teilweise halb vollgekritzelte Seiten auf Restfetzen, teilweise wunderschön beschriebene, illustrierte Manuskripte, die achtlos zusammengeworfen worden waren. Artificis Doctus Alanna hätte die beiden Studenten über Stunden an scharfen Worten verbluten lassen, hätte sie das mitbekommen, aber sie war nicht da. Nur die beiden. Sie hatte ihre müden Augen fest auf das oberste Dokument gerichtet. Er hatte sich im unbequemen Stuhl zurückgelehnt und starrte die Decke an, als würden dort die Antworten stehen.

„Also, Leo, lass hören. Wie wurde der erste gesalbte Kaiser bestimmt?“ Der Hinweis in ihrer Stimme prallte an seiner Übernächtigung ab. „Naja, der alte Eremit hat ihn doch auserwählt, damit er die Menschen in der ersten Schlacht gegen die Geister führt, oder?“ Die Furche in ihrer Stirn wurde noch tiefer. „Falscher Kaiser. Der erste, der wirklich gesalbt wurde, den meine ich.“ „Ähm…“, das Schweigen zog sich eine Weile. Dann: „Das war doch… Ahum, richtig? War das der, der sein Amt ablegte, weil sein bester Freund in der Schlacht starb?“ Sie seufzte. „Nein, Leo. Du denkst immer noch an Àrur. Immerhin passt mittlerweile der Name. Ahum – wie wurde der bestimmt?“

Auf einmal leuchteten seine Augen auf. „Ja, genau, jetzt weiß ich’s wieder! Da hatten sich alle zusammengetan, die für die unterschiedlichen Götter standen, und haben dann einen großen Wettkampf gemacht!“ Kurz blickte sie auf, überrascht. „Ja, das klingt gut, und weiter?“ Er nickte, von seiner plötzlichen Erinnerung befeuert. „Und dann haben sie sich auf viele Disziplinen geeinigt…“ Ein Funken Hoffnung hellte ihre erschöpfte Miene auf.

 

Voller Eifer sprach er weiter: „Und dann gab es diese Schlacht, wo die Geister den Überraschungsangriff starteten…“, die Furche in ihrer Stirn war zurückgekehrt, „…und da hat doch Ahum den Mondgeist bezwungen…“, sie wurde tiefer, „…und dann haben sich alle unendlich gestritten und fast gegenseitig umgebracht, bis Bobeian selbst sagte, Ahum wird’s jetzt! Stimmt’s?“ Er strahlte sie an. Mittlerweile hätte man mit der Furche einen guten Teil des Ledhesees trockenlegen können. Sie holte tief Luft.

 

„Fast. Die Vertreter der Götter haben sich auf Disziplinen geeinigt, das war noch richtig, und danach gab es eben einen Wettkampf. Und der Sieger war der von Bobeian gesegnete Ahum. Mehr nicht. Kein Überraschungsangriff, nichts dergleichen. Wir lernen daraus, dass es eine Zeit gab, wo die Würde des Kaisers erstritten werden musste, sehen aber in ein paar Generationen, wieso das aufgehört hat.“

 

Er war stetig mehr zusammengesackt, während sie gesprochen hatte. Aus einem kleinen Haufen Elend, das entfernt an ihren Mitstudenten Leo erinnerte, drang ein leises „GrmlgrmlgrmlmeineVersionwarspannendergrml…“ hervor.

"Inanna Veh"! - Mündliche Überlieferungen

Hört die Geschichte über den Ursprung der Wüste...

Innana veh! Kommt und hört zu! Kommt, meine Freunde, Brüder und Schwestern. Meine Nichten und Neffen, Kinder und Kindeskinder! Kommt ans Feuer und hört, wie es kam, dass unsere große Wüste Asyuth, unser aller Mutter, entstand und warum wir so lange mit unseren Feinden, den Diavonen, um sie gekämpft haben. Denn ihr müsst wissen, einst waren wir Brüder. Die ersten Kinder des großen Windgeistes Sinush.

Sinush zeugte zuerst den Avon, den Urvater der Diavonen. Danach zeugte er Asyuth, seinen zweiten Sohn und unser aller Urvater. Sinush liebte Asyuth mehr als Avon, weshalb beide Brüder miteinander in Streit gerieten. Um seinem Vater zu beweisen, dass er der bessere Sohn sei, erschuf Avon mit seiner Gabe die finsteren Klüfte des Kandris-Gebirgsrings. In seinem inneren versteckte er mit Hilfe seines Freundes Orakon glänzende Schätze, Edelsteine und Erze, um die Lebenden in seine Tiefen zu locken. Stolz trat der Törichte vor seinen Vater und forderte dessen uneingeschränkte Liebe, denn er habe ihm ein schönes und nützliches Geschenk gemacht. Doch Sinush geriet über dieses vermeintliche Geschenk in Zorn. Denn die Berge, die sein Sohn leichtfertig aus der Erde geschnitten hatte, waren ihm ein Gefängnis. Sie schränkten sein zuvor unbegrenztes Herrschaftsgebiet ein und wollten seiner Macht nicht weichen, so sehr er sich auch gegen sie warf. Sinush wollte Avon darum vernichten, doch Asyuth, der im Grunde seines Herzens gut war und seinen Bruder liebte, nahm schnell den Staub, den Avon zurückgelassen hatte. Aus diesem erschuf er die große Wüste, die heute seinen Namen trägt. Mit Hilfe seiner Freundin Ninurta ließ er an verschiedenen Stellen in der Wüste blühende Gärten und erfrischende Quellen wachsen, die das Auge erfreuten. Er schenkte sie seinem Vater als sein Reich, in dem er uneingeschränkt herrschen, erschaffen und vernichten konnte, wie es ihm gefiel. Sinush mochte dieses zweite Geschenk sehr und fragte seinen Asyuth, was er sich zum Lohn wünsche. Zum Dank bat dieser jedoch nur darum, dass Sinush den Avon verschonen und am Leben lassen würde.

Aber denkt ihr, Avon und seine Nachkommen hätten diese großmütige Tat dem Asyuth und seiner Sippe je gedankt? Nein. Sie fielen schon bald in unsere Stammlande ein und kämpften mit uns um die Herrschaft über die Wüste. Gierig beanspruchten sie die Vorherrschaft über das Reich, welches Asyuth erschaffen hatte, denn sie sind von Natur aus neidisch und missgünstig. Sie geben nichts auf geteilte Blutsbande und verachten das, was uns das Höchste ist: die Familie. Aber wie kann man einem Menschen trauen, der Vater und Mutter, Bruder und Schwester verschmäht? Drum traut nie einem Diavonen!

Vom gemeinsamen Feind
Hören statt lesen!

Inanna Veh! Denn heute geht es um Stolz und Witz und Tücke und Mut, aber vor allem geht es darum, wie man das alles zusammenbringt. Denn das ist gar nicht so einfach.

Es heißt, dass es einmal einen Mann gab, der sein Zuhause verloren hatte. Ein großer Keal hatte es in den Sinn bekommen, das Land des Mannes zu nehmen, und was soll ein einfacher Mann tun, wenn so ein hohes Wesen das so entscheidet? Oh, ich sehe den Schamanenlehrling eures Stammes, der mir empört eine Lektion erteilen will – man muss verhandeln mit dem Geist, man darf nur keine Schwäche zeigen, dann wird es sich so fügen. Vorsicht, junges Blut, denn deine Meisterin schweigt nur und lächelt. Höre auf das, was sie nicht sagt – auch der beste Schamane kann nicht immer das erreichen, was er bei einem Keal zu erreichen sucht.

Das wusste auch dieser Mann, denn er war auch Schamane. Und er wusste auch, dass obwohl er stark war und klug und geschickt, so war er all diese Dinge nicht genug, um sich sein Land wiederzuholen. Aber er war vor allem eins: weise. Und seine Weisheit sagte ihm, dass andere, die stärker und klüger und geschickter waren, ihm vielleicht helfen würden, wenn man sie auf die richtige Art fragte.

Also ging er fort, dieser weise Mann, und suchte den Stärksten im Land auf. Das war ein Tier von einem Mann, sage ich euch! Muskeln am Arm, die größer waren als diese reife Ananas, aber auch behände mit der Waffe, ganz gleich welcher. Er hatte sich seinen Namen damit gemacht, vier Untiere zu zerstören, die das Land verwüstet hatten, und man sagte, ein Teil ihrer Wut hatte er in sich aufgenommen, um noch wilder zu kämpfen. Der weise Mann suchte auch den Klügsten im Land auf, ein stolzer Anführer, der Strategie verstand wie kein zweiter. Er hatte schon Festungen und Städte errichtet, wie es sie zu der Zeit noch nie gegeben hatte, und kannte all die Geheimnisse, wie man sie verteidigte. Aber auch auf dem Schlachtfeld waren seine Pläne die besten, um aus selbst den kleinsten Banden die größte Schlagkraft zu holen. Und der weise Mann suchte noch den geschicktesten Fährtenleser auf, der schon alle Ecken des Kontinents gesehen hatte und jedes Gelände instinktiv verstand, so wie eine Mutter ihr Kind versteht. Dieser Fährtenleser war leise wie der Flug der Eule und unauffälliger als ein Schatten in einer mondlosen Nacht und konnte für jeden Stamm den besten Weg weisen, um Nahrung oder Wasser oder einen unachtsamen Feind zu finden.

Der weise Mann bat sie alle um ihre Hilfe. Aber wie alle Menschen, die etwas beherrschen, wollten sie alle den Beweis dafür sehen, dass er ihrer Hilfe würdig war, einer nach dem Anderen.

Der Starke trat vor und sprach über die Bedeutung der Kraft, über die Ehre des Kampfes und die einfache Freude, die eigenen Muskeln zu spüren, das eigene Blut in den Ohren rauschen zu hören. Er erklärte, dass nur jemand, der dieses Lied so gut kannte wie er, seine Hilfe verdient hätte. All dies hörte der weise Mann still und antwortete nicht.

Der Kluge trat vor und sprach über die Wichtigkeit des Verstands und der weitsichtigen Planung, über die Notwendigkeit, sparsam mit seinen Ressourcen umzugehen, aber gleichzeitig nicht zu zögern, wenn sie geopfert werden mussten. Er erklärte, dass nur jemand, der diese Tugenden verstand, seine Hilfe verdient hätte. All dies hörte der weise Mann still und antwortete nicht.

Der Geschickte trat vor und sprach über das Verlangen des Auges, jedes Geheimnis des Landes zu lüften, über die Suche nach den Wegen, und über die Gewandtheit, die es brauchte, um nicht die Keal zu verärgern, die dort schlummerten. Er erklärte, dass nur jemand, der diese Wege kannte, seine Hilfe verdient hätte. All dies hörte der weise Mann still und antwortete nicht.

Schließlich hatten alle drei gesprochen und blickten den Weisen erwartungsvoll an. Jetzt rührte er sich und sprach: „Was ist eure Herausforderung für mich?“ Und es kam, wie es kommen musste: der Starke wollte einen Kampf bis zum ersten Blut. Der Kluge wollte einen Wettstreit, wer an einem Tag mit seinen eigenen Händen schneller eine Brücke bauen konnte. Und der Geschickte wollte, dass der Weise ihm eine bestimmte Blume bringen sollte, die auf dem Gipfel eines nahen Bergs blühte.

Am nächsten Morgen banden sich der Weise und der Starke gegenseitig die Bänder der Ehre an, wie es sich für zwei gehört, die um die Ehre kämpfen wollen. Und sie gingen auf den Kampfplatz, und es dauerte keine zehn Augenblicke, ehe der Weise am Boden lag und sich den Arm hielt, wo etwas Blut hervorquoll.

Zum Morgen darauf trafen sich der Weise und der Kluge an dem Graben, den der Weise in der Nacht zuvor ausgehoben hatte. Und sie begannen zu bauen, und es dauert keine Stunde, bis der Kluge Holz vermessen und zurechtgeschnitten hatte, sodass seine Brücke auch das Gewicht von zehn Mannen hätte halten können, während der Weise schwitzend an seinen ersten Brettern saß.

Am dritten Morgen schließlich fragte der Weise den Geschickten nach der Blüte aus und beschrieb sie so genau, dass der Geschickte zufrieden war, dass er das Ziel kannte. Und er ging los zum Berg, und als er zur Nacht nicht wiedergekommen war und ein Sturm aufzog, ging der Geschickte ihm nach und fand ihn besinnungslos am Fuße einer Steilwand, wo er aus Erschöpfung gefallen war.

Ah, der Schamanenlehrling ist ungeduldig! Er weiß, wie die Geschichte wohl ausgehen wird – er lächelt überlegen und will die Lektion schon aussprechen. Denn die Drei haben dem Einen geholfen, weil er sich willig zeigte, sich anzustrengen, oder, Junge? Vielleicht solltest du wieder auf deine Meisterin hören, deren Schweigen und Lächeln auf ein anderes Ende deuten.

Denn als der Weise sich erholt hatte und wieder ansprechbar war, schüttelten alle drei den Kopf. Er war zu schwach, sagte der Starke. Er war zu dumm, sagte der Kluge. Er war zu unbeholfen, sagte der Geschickte. Der Weise nickte wieder nur und drehte sich weg, um zu gehen. Doch die Drei konnten sich nicht zurückhalten und fragten seinen Rücken: „Du wusstest doch, dass du verlieren würdest. Wir haben gesehen, dass du das verstanden hattest. Warum hast du es dennoch probiert?“

Der Weise drehte sich wieder zu ihnen um und sprach abermals: „Ich wusste, dass ihr in euren Disziplinen besser seid als ich, ja. Wärt ihr das nicht, hätte ich wohl kaum eure Hilfe gebraucht. Aber ich wollte immerhin etwas von euch lernen, und das, denke ich, ist mir gelungen.“ Er wandte sich dem Starken zu: „Als ich dir vor dem Kampf das Band der Ehre festmachte, stach meine Fibel in deine Haut – du merktest es nicht einmal, aber es war genug, um einen Tropfen Blut zu vergießen.“ Zu dem Klugen sagte er: „Als ich im Morgengrauen den Graben aushob, hätte ich auf der fernen Seite aufsteigen und dort warten können, bis deine Brücke gefertigt war.“ Und zu dem Geschickten sagte er: „Ich kaufte am Markt eine Blüte der Pflanze, die du mich suchen schicktest, und hatte sie in der Tasche, als wir über ihre Gestalt sprachen.“

Die Drei blickten nun so finster, wie der Schamanenlehrling es schon tut – sie fühlten sich genauso betrogen. „Und du glaubst, du hast uns so besiegt?“ Aber der Weise antwortete nur sanftmütig: „Nein. Ich habe euch zugehört und eure Tugenden verstanden. Diese habe ich nicht im Ansatz besiegt. Aber ich konnte dennoch lernen. Denn mein Feind, der große Keal, wird jeden Streich schlagen, den man ihm bietet, jede überlegene Position besetzen, die man ihm nicht vorwegnimmt, und jedes Ziel auf dem kürzesten Weg ergreifen. Diese Lektion will ich genauso gut lernen, bevor ich gegen ihn antrete.“

Sein ruhiger Ton zerstreute den Zorn der Drei. Jetzt blickten sie nachdenklich, bis schließlich, einer nach dem anderen, sie sich vor dem Weisen verbeugten und ihn baten, als seine Begleiter und Schüler bei ihm bleiben zu dürfen.

Wie es dazu kam, dass ein großer Keal des Himmels sich für Land interessierte? Wie sie ihn schließlich besiegten? Das sind Geschichten für andere Nächte, meine Freunde.

Vom Kampf zwischen Sonne und Mond
Hören statt lesen!

Inanna Veh! Drei Bande, heißt es, knüpfen wir Menschen im Leben, drei Bande sind uns gegeben. Das Erste ist das Band von Blut, von Eltern, Geschwist; ob schlecht, ob gut. Das zweite ist das Band der Knochen, wenn Liebe lässt das Herz uns pochen. Das dritte ist das Band aus Eisen, Brauch und Sitte, Wege weisend. Auch wenn die Keal nicht sind wie wir Menschen, so sind sie uns doch in dieser Hinsicht ähnlich.

Zu einer Zeit des Krieges war der weise Mann unter argem Druck geraten. Ein Feind hatte die Gunst vieler Keal gebunden und diese genutzt, um seine Truppen über verborgene Wege zu geleiten. So hatte es sich begeben, dass die Streitkräfte des weisen Mannes überrascht worden waren. Ein großer Teil seiner Infanterie lagerte ohne Unterstützung auf offener Fläche. Doch der Feind hatte eine mächtige Truppe an berittenen Schützen vorbereitet, die mit ihrer Wendigkeit und ihren mächtigen Bögen vollkommen ungestraft Pfeile auf sein Heer niederregnen können würden.

In der Nacht vor dem geplanten Angriff warnten befreundete Keal den weisen Mann. Er und seine Feldherren waren zwar überrascht, aber nicht zu besorgt. Denn sie hatten bei sich einige Schamanen und Begabte, die die Kräfte von Erde und Wasser beherrschten. Die offene Fläche würde bis zum Morgengrauen ein Morast sein, in dem die Pferde des Feindes zugrunde gehen würden. Doch als die Keal die zweite Botschaft überbrachten, trieb sie tiefe Furchen in seine Stirn.

Der große Geist Shamaash, die Schlange der Sonne, deren Glanz die Dunkelheit vertreibt, war hervorgekommen. Eine Art Wahnsinn trieb ihn an, so sagten die vertrauten Keal des weisen Mannes, und er würde sicherlich über die Truppen herfallen. Ohne die gesammelte Kraft der Gabe würden sie alle im gesegneten Feuer der Sonnenschlange verenden. Doch wenn die Begabten Shamaash abwehren mussten, dann wäre das Feld frei für die Schützen des Feindes. Beide Wege führten in den Tod oder die Gefangenschaft.

Wenn ein weiser Mensch zwischen der Axt und dem Schwert entscheiden soll, die ihm den Schädel spalten wird, dann tut er gut daran, nach einer weiteren Option zu suchen. Der weise Mann und seine Feldherren liefen das Gelände ab, wo die Schlacht stattfinden musste, doch fanden sie keinen geheimen Weg, keine Festung, die in der Nacht aus dem Boden erstanden war. Sie suchten die Richtung ab, in der die Sonnenschlange unruhig schlief, und befragten die Überlebenden, die vor ihr hergetrieben worden waren, doch hörten sie nur Geschichten von Zerstörungswut und Wahn. Und schließlich saßen sie beisammen unter dem Licht des Vollmonds und berieten sich, bis der weise Mann aufstand und ihnen hieß, die Schamanen und Begabten auf das Feld zu schicken und die Erde zu erweichen.

Seine Feldherren gehorchten ihm, denn sie vertrauten seiner Weisheit. Aber das ist das Wesen jedes Anführers – er muss sicher wirken und Herr der Lage sein, auch wenn sich in ihm die Sorgen und Ängste winden. Mit dem Angriff eines so großen Keals hatte der weise Mann nicht rechnen können, und es schien ihm, als würde das ihm und den Seinen ein bitteres Morgenmahl bescheren. Nur eine Möglichkeit sah er noch.

So ging der weise Mann einige Schritte, bis er das Lager hinter sich gelassen hatte. Der Mond hatte seinen Höhepunkt erreicht. Auf einer Lichtung setzte sich der weise Mann, nahm einen Schlauch mit einer geheimen Mischung von seinem Gürtel, und trank. Und er sprach:

Ich träumte in einer Nacht, dass mich eine Schlange gebissen hatte, doch ihr Gift machte mich nur stärker. Ich nahm sie und zwang ihr Maul auf und trank von der Milch ihres Giftes, bis ich nicht mehr wusste, wohin mit meiner Stärke.

Ich träumte in einer anderen Nacht, dass sich eine Flamme an mir vorbeischleichen wollte, um meine Familie zu verbrennen. Doch ich nahm sie in meine Hand und hielt sie fest, bis sie mich nicht mehr verbrannte. Und in ihrem Flackern sah ich unendlich Gesichter, doch alle waren traurig, traurig, weil sie brennen mussten und keinen anderen Weg kannten, sich am Leben zu halten, als andere zu verzehren.

Ich träumte in einer dritten Nacht, dass ich im Bette erwachte und meine geliebte Frau mich voller Entsetzen anstarrte. Ich wusste nicht, was sie an mir sah, bis ich an meinen Mund fasste und dort das Blut meines guten Freundes fand.

Und als er seinen dritten Traum ausgesprochen hatte, da änderte sich etwas am Lichte des Mondes über ihn. Das silbrige Licht, das ihn bedeckte und unendlich zart all die Ängste und Sorgen in seinem Gesicht in Schatten zeichnete, wurde stärker, denn jetzt kreiste in der Luft über ihn die Gestalt der großen Mondschlange, Ningal. Sie war filigran, wirkte zerbrechlich wie ein schillernder Eiszapfen, aber in ihr war die Kraft und die Ruhe und das Wissen der Nacht, und ihr Leuchten zeugte von dieser sanften Macht. Und sie sprach zu ihm, wie es die eisernen Bande der Tradition verlangen, und dankte ihm für sein Geschenk, das er unter dem richtigen Himmel mit den richtigen Zeichen gegeben hatte.

Der weise Mann erwies ihr die Ehre, die die eisernen Bande der Tradition von ihm verlangten. Er bat sie darum, Shamaash in der Nacht, wo sie stark war und die Sonnenschlange schwach, anzugreifen und von hier fortzubringen. Er versprach ihr die eiserne Gabe: er und die Seinen würden ihr Ehre und Opfer erweisen, siebenmal sieben Jahre, wie es die alten Bräuche verlangen.

Einen kurzen Augenblick lang dimmte das silberne Licht, bevor Ningal ihn wieder mit funkelnden Augen ansah. Ihre Stimme war kalt, kalt wie das blitzende Eis, an das sie erinnerte. Sie fragte ihn, was sie denn mit den Opfern der Menschen sollte, was ihr diese Gabe bringen sollte. Der weise Mann sah, dass nur das eiserne Band sie davon abhielt, ihn auf der Stelle niederzustrecken.

Seinen Fehler erkennend, aber noch keine Lösung sehend, flehte sie der weise Mann an, ihn noch einmal zu erhören. Er hatte über seine Jahre viele Freunde auch in der Geisterwelt gesammelt. Viele schuldeten ihn Gefallen, noch viel mehr sahen ihn als Kameraden. Er bot ihr die knöcherne Gabe – seine Freundschaft und auch die seiner Freunde, so viel, wie er erwirken konnte.

Dieses Mal dimmte das Licht nicht, aber nach kurzer Pause sprach Ningal erneut. Sie fragte ihn, wie er gedachte, seine knöchernen Bande auf sie zu übertragen, denn waren diese nicht freiwillig nur ihm gegeben? Mit welchem Recht gab er sie weiter? Und seine eigene Freundschaft war nur die eines Menschen, für sie nichts wert – denn ihr müsst wissen, die Mondschlange hielt sich schon immer ferner von den Menschen, als es viele Keali tun.

Doch jetzt hatte der weise Mann endlich verstanden. Die Keali ehrte die gleichen Bande wie die Menschen. Sie hatte ihn nicht niedergestreckt, weil es das eiserne Band verlangt. Sie hatte ihn zurechtgewiesen, was die Grenzen des knöchernen Bands sind. Also bot er ihr das Band des Bluts. Er sprach frei heraus über den Wahnsinn, der Shamaash befallen hatte, und versprach der Mondschlange, ihr zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte.

Ningals Augen leuchteten nun heller als bisher. Dieses Mal gab es keine Pause. Sie fragte ihn, warum sie ihm glauben sollte, dass ihr Bruder unter Wahn litt. Und der weise Mann riet ihr, sich still wie der neue Mond an dieser Lichtung zu verstecken und zuzusehen, was er ihr zeigen könne.

In die Geisterwelt warf er sich, vollständig, nur seinen Körper zurücklassend, und reiste wie der Wind zum Ort, wo Shamaash sich im Schlaf windete. Aus den Bäumen heraus, sodass ihn die Sonnenschlange nicht sofort sehen würde, sprach der weise Mann:

Meine Truppen trauen mir mehr, als ich zu tragen vermag. Ich fürchte, sie in den Tod zu schicken.

Und Shamaash erwachte, denn seine Flammen brennen lichterloh und zerstreuen jeden Schatten, hinter dem sich Geheimnisse verbergen können. Blind wie ein Säufer, dessen Augen zukleben, schlug er mit seinem Kopf umher und suchte nach der Quelle, nach der Stimme. Der weise Mann sprach erneut:

Meine Feldherren sind klüger, geschickter, und erfahrener als ich auf dem Schlachtfeld. Ich fürchte, dass sie mich irgendwann nicht mehr brauchen und abstoßen werden.

Nun richteten sich Shamaash‘ Augen auf den weisen Mann, zwar noch blind, aber jetzt seine Fährte aufnehmend. Die Schlange entwirrte sich ungeschickt, aber beängstigend schnell, und schoss auf ihn zu. Doch in der Geisterwelt können die Wege in einem Augenblick zurückgelegt werden, und der weise Mann war schon auf die Lichtung geflohen, wo Ningal still und heimlich lag, ihre Augen nun dunkel, aber so aufmerksam wie zuvor. Und der weise Mann sprach:

Ich fürchte, dass meine Feinde in diesem Krieg Geheimnisse kennen, derer ich nicht Herr werden kann und gegen die ich kein Mittel kenne. Oh großer Shamaash, nimm mein Geschenk an und schenke mir eine Audienz!

Und Shamaash war bei ihm, und jetzt öffneten sich seine Augen, doch darin war keine eiserne Pflicht, kein knöchernes Wiedererkennen. Die Hitze seines Blickes traf auf die Gestalt des weisen Mannes und es gab einen grellen Lichtblitz. Von einem Augenblick zum nächsten wurde der weise Mann eingeäschert. Nichts blieb von ihm in der Geisterwelt, der Andertod hatte ihn geholt. All dies sah Ningal, und einen weiteren Augenblick später stürzte sich die silberne Schlange auf die güldene.

Meine Worte keuchen und sterben, wenn sie versuchen, die Anmut und den Schrecken dieses Kampfes zu beschreiben. Das ist wohl besser so, denn das gleißende Licht dieser Begegnung hätte sofort die Augen eines jeden Zeugen ausgebrannt. Sicher ist nur, dass Bruder und Schwester nicht nur durch die Windungen ihres Körpers verbunden waren, sondern auch immer noch durch das erste und mächtigste Band, das des Blutes. So kam es also, dass kaum Blut vergossen wurde, obwohl Ningal zu ihrer mächtigsten Zeit ihren umnachteten Bruder angriff und ihn von dem Schlachtfeld fortlockte.

Als zum nächsten Mittag die siegreichen Feldherren nach der Schlacht ihren Anführer suchen kamen, fanden sie ihn in der Lichtung, starrenden Auges den Andertod lebend. Sie nahmen ihn mit sich und so fest war ihr Glaube an ihm, dass es sie nicht überraschte, als zur Nacht im Mondlicht seine glasigen Augen sich wieder mit Leben füllten. Doch war ihr Staunen groß, als die Mondschlange ungebeten unter ihnen erschien und zum weisen Mann sprach.

Sie dankte ihm für seine Tat, durch die sie gelernt hatte, wie es um ihren Bruder stand, aber warnte ihn gleichzeitig, nie mehr so töricht zu sein und in der Geisterwelt sich töten zu lassen. Doch dann leuchtete sie heller und sagte: Und dennoch wirst du es weiter riskieren, glaube ich, und niemand wird dich davon abhalten können. So sei es, vielleicht wirst du am Ende einen Beitrag leisten, meinen Bruder und die anderen zu heilen. Dann nimm meinen Rat! Dort, wo mein Blut fiel, als ich versuchte, meinen Bruder zu retten, dort suche. Denn was dort wächst, trägt die Stärke der Bande des Blutes in sich. Nutze es fortan, auf dass es deinen Geist an deinen Körper bindet, auf dass du den Weg zurück zu dir findest, auch wenn du weiterhin so leichtfertig in meiner Welt wandelst.

Denn auch die Keal und Keali kennen die drei Bande, und auch sie wissen, dass man sie achten muss. Wer das verkennt, den hat in der Tat der Wahnsinn geholt.

Von der Widernatürlichkeit
Hören statt lesen!

Inanna Veh! Im Norden haben viele Angst vor unseresgleichen, meine Freunde. Nicht alle, aber viele. Die Greise, die reichen, verweichlichten Kinder von Anführern, die nichts von ihren Ahnen gelernt haben, die Priester, die die Weisheit suchen, indem sie sich von der Welt abschotten, anstatt sie zu erleben und von ihr zu lernen. Aus Angst vor der kleinsten Prellung wagen sie es nicht, bei einem sanften Regen auszureiten. Aus Angst vor einem kleinen Appetit, den sie nicht sofort befriedigen können, stopfen sie sich dreimal am Tag das Maul voll und wagen sich keine Stunde weg von ihrem Landsitz. Aus Angst vor roter Haut ölen und schmieren sie sich mit aufwendigen Mixturen ein. Sie schauen auf uns und fragen: „Wie kann es sein, dass ihr so kalt und ruchlos mit den Euren umgeht?“

Ja, ihr fragt euch, was sie meinen. Denn lieben und ehren wir nicht unsere Familien und unsere Weggefährten? Natürlich. Denn es ist gut, zu lieben und sich gegenseitig zu schützen. Um das zu lernen, muss man nur einmal das Gefühl merken, wenn eine zahnlose Greisin die Suppe schlürft, die man ihr zubereitet hat, oder sehen, wie ein stolzer Krieger etwas leichter läuft, wenn man ihm die richtige Medizin für die Schmerzen seines Beines gegeben hat. Aber dennoch sehen sie uns als ruchlos. Wieso?

 

Sie sehen, wie die Greisin ihr Bestes tut, um bei den täglichen Arbeiten zu helfen, und fragen: „Warum darf sie nicht ruhen?“. Sie sehen, wie der junge Krieger beim Übungskampf verletzt wird und fragen: „Wieso riskiert ihr eure Kinder?“. Und sie sehen, wie der Dieb, der einmal vom gemeinsamen Vorrat stiehlt, vertrieben oder getötet wird und fragen: „Wo bleibt eure Gnade?“. Und das ist das Maß ihrer Verblendung. Wir müssen Geduld haben mit ihnen, meine Freunde. Denn ihre Krankheit verhindert, dass sie verstehen können, dass sie nicht gesund sind.

 

Aber auch hier sehe ich viele Gesichter viel zu selbstgefällig lachen. Zu viele hier, die glauben, dass ein Mann, der kein Freund ist, als Feind behandelt werden kann, dass Gewalt und Kraft einem Recht geben, anstelle das Werkzeug der Gerechtigkeit zu sein, dass es für die eigene Seele gut ist, wenn man andere unterwirft. Manche davon ahnen nicht, dass ich über sie spreche, während andere mich jetzt wütend mustern und noch andere eine kleine Spur Scham in sich entdecken. Aber ihr, ihr habt die Chance zu lernen, die den Nordlingen genommen wird.

 

Denn wisset, meine Freunde – wir lernen alle unsere Lektionen vom Tod. Letztendlich ist er unser Lehrmeister in allen Dingen. Die Greisin fühlt jeden Tag in ihren Knochen, wie er geduldig nach ihr ruft, aber sie weiß, wenn sie aufgibt und ruht, dann lädt sie ihn ein. Der Krieger wird jäh an ihn erinnert, wenn seine Parade zu langsam ist, und sein Bein bleibt ihm ein wirksames Andenken. Und der Dieb lernt zuletzt, dass er verkannt hatte, was die Harmonie seines Klans bedeutete – und ist er geschickt, kann er die Lektion vielleicht sogar in diesem Leben noch mitnehmen.

 

Ein weiser Mann weiß das, und er weiß auch, dass der Kampf mit dem Tod immerwährend ist. Aber vor allem weiß er, dass die Lektion des Todes niemals sein kann, sich ihm endgültig zu entziehen – denn wer ist so weise, dass er von unser aller Lehrmeister nichts mehr zu lernen hat? Aber Lektionen lernt man nur, wenn man die Augen aufhält und genau aufpasst. Nicht jeder ist gewillt, dem Tod in die Augen zu sehen, und manch einer lernt eben nur, wenn er sich sicher wähnt, weil er anderen den Tod näherbringt. Und im Norden gibt es zu viele, die seinem Unterricht entfliehen wollen, so lange es nur geht.

 

Es gab einen Mann, der hatte diese wichtigste Lektion über lange Jahre gelernt. Seinerzeit hatte es viele Kriege gegeben und auch viele wilde Keal, die viel Schaden angerichtet hatten. Er hatte diese Herausforderungen gemeistert, indem er sich einen Klan aufgebaut hatte – einen Klan, der ihm aus der Überzeugung seiner Weisheit heraus folgte. Die glorreichen Herrscher und klugen Gelehrten, die sich ihm angeschlossen hatten, hatten unter seiner Führung auch die mächtigsten Feinde besiegt, sodass nun endlich Frieden zurückgekehrt war. Doch das Band, das im Krieg geschlossen worden war, war nun unzertrennlich. Sein Klan der Oberhäupter blieb ihm als Oberhaupt loyal, und sie nannten ihn Urven, Vermittler, Berater, Weiser.

 

Doch der weise Mann hatte auch seine eigenen Grenzen kennengelernt. In seiner Bande waren genug, die die mannigfaltigen Dinge beherrschten, die es braucht, um ein friedliches und gedeihendes Volk zu führen. Er gab ihnen seinen Segen, ihre eigenen Klans zu führen und jeder auf die eigene Art zu florieren. Er selbst blieb mal in seiner eigenen Heimat, mal reiste er von Ort zu Ort, um denjenigen seinen Rat zu geben, die es haben wollten.

 

Aber jeder Mann hat seine blinden Flecken. Das Vertrauen des weisen Mannes in seine Bande war groß, vielleicht zu groß. Ihm hatte der Krieg gelehrt, die kleinen Erinnerungen an den Tod zu schätzen und sogar aufzusuchen, um nicht in Stillstand zu verfallen. Er träumte nicht davon, dass es den Seinigen anders ergangen sein könnte. Doch niemand ist davor gefeit, zu ermüden, zu straucheln, sich nach einer Alternative umzusehen, wenn ein Weg zu lange zu beschwerlich war.

 

Die Erkenntnis beschlich den weisen Mann langsam, über die Jahreszeiten seiner Reisen. In einem Land sah er, wie die Rüstkunst eines einstweiligen Gefährten den Massen weitergegeben wurde, und war glücklich, dass sich die Menschen so fortentwickelten. Doch sein Glück ebbte ab, als er sah, wie die Soldaten sich nunmehr auf ihren überlegenen Schutz verließen, anstatt ihre eigenen Fertigkeiten zu schärfen. In einem anderen Land überkam ihn Freude, als er sah, zu welcher Gerechtigkeit die Dekrete eines anderen Gefährten geführt hatten – so lange, bis er die Richter sah, die blind und stur diese Dekrete lernten und anwandten, anstatt darin nach Lücken zu suchen, die es zu flicken galt. In noch einem anderen Land staunte er ob des großen Nahrungsüberflusses, den die Methoden eines weiteren Gefährten produziert hatten, aber er wurde traurig, als ihm die Felder gezeigt wurden, wo mit den gleichen Methoden immer nur die gleichen, effizientesten Pflanzen angebaut wurden, sodass alle nur noch den Geschmack eines Einheitsbreis kannten.

 

Doch die Quelle von alledem wurde dem weisen Mann nicht klar. Seine Gefährten begrüßten ihn immer noch mit der alten Liebe, hörten aufmerksam auf seinen Rat und auf seine Warnungen, doch änderte sich nichts. Erst, als er seinen klügsten Gefolgsmann besuchte, der, dessen Baukunst und Strategie für die höchsten Türme und die stärksten Heere gesorgt hatte, der, der jetzt ein mächtiger König war, sollte er erfahren, welche üble Blüte hinter seinem Rücken geknospt war.

 

Bei einer fürstlichen Mahlzeit besprachen sie sich, lachten und weinten über die vergangene Zeit, und ließen ihre Freundschaft wieder aufleben. Doch als der letzte Wein getrunken war, wurde der König ernst und sprach auf den weisen Mann ein. Er erzählte von einem großen Geschenk, das ihm zuteilgeworden war, und der Quelle jenes Geschenks, die er ausfindig gemacht hatte. So sehr leuchteten seine Augen bei dieser Erzählung, so eifrig waren seine Worte, dass der weise Mann sein plötzliches Unbehagen unterdrückte. Doch der König sprach weiter: „Es scheint so unpassend, alter Freund, alter Lehrer, dass du der letzte unseres Kreises bist, der diese große Gabe erhält. Aber du bist wie eh und je niemals an einem Ort, sondern man muss suchen und hoffen, dich zu finden. Aber jetzt kann ich dir endlich geben, was dir viel mehr als uns allen zusteht!“ „Aber was ist denn diese Gabe, die dich so beseelt hat, mein Freund?“ fragte ihn der weise Mann.

 

Der König antwortete nicht, doch stand auf und bedeutete einem Bediensteten, ihm eine Klinge zu bringen. Dann schickte er alle Diener weg. Das Unbehagen des weisen Mannes war nur gewachsen. Er fürchtete nicht um sich selbst, denn selbst wenn dies eine Falle gewesen wäre, war er dem König im Kampf sicher ebenbürtig oder sogar ob seiner Kealgabe überlegen. Aber irgendetwas störte ihn, kratzte an ihm, wollte ihn nicht loslassen.

 

Der König nahm die Klinge in die Hand, ein fein geschmiedetes Schwert, hübsch anzusehen, aber aus hartem, gutem Stahl gemacht. Ehe der weise Mann ihn aufhalten konnte, stach er mit voller Inbrunst in sein eigenes Fleisch – ein Stich, der das Herz eines jeden Menschen durchbohrt hätte und ihn augenblicklich zur Strecke gebracht hätte. Doch der König lächelte nur, und als er das Schwert wieder zurückzog, sah der weise Mann drei Dinge: die Wunde blutete nicht, noch nicht mal ein Tropfen war vergossen worden. Die Haut begann bereits, sich wieder zu schließen. Und das Schwert, das fein gearbeitete, meisterliche Schwert, war schartig und zerkratzt, als hätte man damit gegen Stein geschlagen. „Keine Sorge, mein Freund, das ist nicht die dunkle Magie des Usurpators, unserem alten Feind. Das ist eine andere Kraft, eine saubere, reine Kraft, die mich bewahrt und ewig bewahren wird. Und sie soll auch dich bewahren, auf dass deine Weisheit nicht verlorengeht!“

 

Kalt fuhr es dem weisen Mann den Nacken hinunter. Kalt stieg die Wut in ihm auf. Kalt war seine Stimme, als er antwortete. „Du bietest mir Zuflucht vor dem Tod? Nein. Dein Geschenk ist weitaus schlimmer als das, wovor es mich schützen soll. Du würdest mich in der Erde vergraben, damit ich nicht zu Schaden komme. Du würdest mir meine Stimme nehmen, damit ich mich nicht um Kopf und Kragen reden kann. Du würdest mir die Augen ausstechen, damit ich keine Worte lese, die mich verwirren könnten. Und du sagst, ich bin der letzte im Bunde, der dieses Geschenk nicht erfahren hat? Zerstört hast du das, was du bewahren wolltest! In Bernstein gefangen hast du die Blüte, die du so bewundert hast, und jetzt wirst du nie lernen, was aus ihr hätte werden können.“

 

An diesem Tag wurde die Gemeinschaft des weisen Mannes gebrochen. Er verließ seine ehemaligen Schülerinnen und Schüler, denn sie hatten sich von dem Weg der Weisheit abgewendet. Nur denjenigen, die dem bleichen Lehrmeister Tod noch ins Gesicht blicken wollten, gab er fortan seinen Rat, nur für die, die Wandel mehr lieben als Stillstand, war er noch Urven.

 

Also fragt euch nicht länger, warum die Nordlinge uns fürchten und warum wir so lange kämpfen. Aber fragt euch vielleicht stattdessen, ob wir nicht alle – nördlich wie arsisch – noch eine Lektion aus diesem langen Streit ziehen können.

Von der Hetzjagd des Weisen
Hören statt lesen!

Inanna Veh! Es heißt, dass ein weiser Mann nie um etwas kämpft, wenn er es durch List erreichen kann, und nie List einsetzt, wenn einfache Worte reichen. Aber genauso wenig verschwendet ein weiser Mann Worte, wo List nötig ist, und er greift auch zum Speer, wenn keine List mehr hilft.

Es gab einen Mann, der diese Lektion wohl kannte, weil er in schlimmen Zeiten lebte. Es herrschte oft Krieg zu seiner Zeit, doch hatte er deswegen überlebt, weil er zu lesen verstand, wann er aus Feinden Freunde machen konnte. Und das war bitter nötig. Er brauchte jeden Freund, den er nur finden konnte, denn er hatte einen unerbittlichen Feind, bei dem keine Worte der Welt noch helfen konnten – der große Keal der Erde. Dessen Macht war die des Berges, dessen Wut heiß wie die Feuer, die unter dem Vulkan brennen, und dessen Geduld wie der Teer, der alles verschluckt.

Dieser Keal hatte das Land des weisen Mannes beansprucht. Wir wissen alle, dass das nun mal der Weg der Dinge ist – wer zu lange an einem Ort stehenbleibt, der wird im Geiste so starr wie seine Füße. Auch der weise Mann hätte sich nicht gegrämt und wäre einfach weitergezogen, wäre da nicht das Geschenk seiner Mutter gewesen, das er hatte zurücklassen müssen.

Denn der weise Mann war der Sohn einer anderen Keali gewesen, die sicherlich genauso groß war wie der Keal der Erde. Ihr Reich war das Wasser und sie hatte ihm den größeren Teil seiner Weisheit geschenkt, als Trunk aus ihrer heiligen Quelle. So viel Wissen hätte einen einfachen Mann überwältigt, also hatte er nur schluckweise daraus getrunken und war über die Jahre an Klugheit und Verstand gewachsen. Doch jetzt war es ihm verwehrt, sein weiteres Erbe der Weisheit anzutreten. Dies wollte der weise Mann nicht auf sich sitzen lassen.

In den Stunden vor dem Morgengrauen ruft der Schlaf am lautesten, so heißt es. Das also war die Zeit, zu der der weise Mann sein altes Haus umschlich, das nun seinem Feind gehörte. Er suchte nach Schwächen, nach Möglichkeiten, einen entscheidenden Schlag zu setzen. Doch selbst von der Ferne erkannte er schnell, dass dies eine falsche Hoffnung war. Der Erdkeal hatte es sich in seinem Haus gemütlich gemacht. Die Steinwände seines Hauses strahlten schon auf viele Schritte die Hitze des Vulkans aus. Ein Schleier aus Asche und Rauch trübte seine Sicht und nahm ihm den Atem. Nur mit Mühe konnte er durch das Fenster den Krug ausmachen, worin sich das Geschenk seiner Mutter befand. Aber sich weiter zu nähern wäre töricht gewesen – und der weise Mann war vieles, aber töricht sicher nicht.

Doch war dieses Spähen nicht ohne Zweck. Denn der weise Mann beobachtete, wie zum Morgengrauen eine schöne, aber seltsame Frau aus dem Haus kam. Sie merkte die Hitze anscheinend kaum, sondern ging in den Wald. So scharf war ihr Blick, dass der weise Mann froh war, dass sie in die andere Richtung gegangen war, sonst hätte sie ihn sofort bemerkt. Nur wenige Augenblicke später kam sie wieder mit einem jungen Reh auf ihrer Schulter, das sie im Hofe ausnahm und zubereitete, weit genug vom Haus, dass sie ihre Arbeit noch gut sehen konnte. Zur Mittagszeit war sie fertig und schickte sich, wieder zu ihrem Herren zurückzukehren. Dem weisen Mann jedoch fiel auf, dass sie einen Augenblick zögerte, bevor sie das Haus betrat – ein seltsamer Anblick, denn Zögern schien ihrem tiefsten Wesen zuwider.

Zum Abend hin wurde ein zierlicher, fuchsartiger Keal von zwei feurigen Salamandern zum Haus getrieben. Sein Fell war von Brandwunden gespickt und in seiner kleinen Schnauze trug er eine Korbflasche, die ihm viel zu groß und schwer erschien. Der weise Mann war erleichtert, dass der Erdkeal offenbar andere Getränke seinem Weisheitstrunk vorzog. Bis zur Schwelle trieben ihn die feurigen Echsen, und er setzte dort die Flasche ab. Seine ganze Haltung war voll der Demut des geschlagenen Sklaven, doch fiel dem weisen Mann auf, dass er die Flasche einen Augenblick lang mit stolzer Brust ansah, bevor ihn die Salamander wieder fortjagten.

Am zweiten Tag versteckte sich der weise Mann am anderen Ende des Hauses. Wieder versicherte er sich, dass der Krug mit dem Wasser der Weisheit noch dastand, wieder war er erleichtert, dass es so war. Zum Morgengrauen kam wieder die seltsame Frau aus dem Haus. Dieses Mal kam sie auf ihn zu und er schreckte nicht zurück. Als der Schatten der Bäume sie berührte, verwandelte sie sich in eine Art Mischling zwischen Wolf und Mensch. Trotz seines wohlvorbereiteten Verstecks erahnte sie ihn sofort und sprach ärgerlich: „Verschwinde aus diesem Wald, Mensch. Du vertreibst die Beute, die ich jagen will.“ Der weise Mann sprach mit weiten Augen: „Oh Keali, wo soll in diesem Wald denn gute Beute sein? Bei so viel Rauch und Asche?“ Sie schnaubte und stürmte wie ein Blitz an ihm vorbei außer Sicht. Einen Augenblick später kehrte sie mit einem jungen Reh auf den Schultern zurück. „Versuche mir nichts von der Jagd zu lehren, Menschenkind. Das ist mein Wesen.“ Erneut sprach der weise Mann: „Oh, verzeiht, edle Keali! Ich hatte ja nicht geahnt, was Ihr alles an einem solchen Ort finden könnt! Nur…“ Sie hatte sich schon zum Gehen abgewandt, aber jetzt spannten sich ihre Muskeln an. „Was?“ „Ich fragte mich nur, warum Ihr nicht… würdigere Beute jagt?“

Mit einem Satz war sie an ihn herangesprungen. Ihr Odem war heiß und roch nach Blut. „Wovon spricht das Menschenkind? Will es mich provozieren? Ich erteile ihm gerne eine Lektion!“ „Oh nein, nein, ich wollte nicht respektlos erscheinen! Aber ich kenne einen Wald, nicht weit von hier, dort wandeln Hirsche und Elche, die dieses Tier in jeglicher Hinsicht übertreffen. Manche davon sind sogar Keale oder stammen von ihnen ab. Soll ich den Weg zeigen?“

Es wäre außerhalb ihres Wesens gelegen, abzulehnen. So folgte sie ihm stundenlang, bis der Rauch des Erdkeals hinter sie geblieben war. Als sie die saubere Luft einatmete, klärte sich der Blick der Keali. „Was? Was hat mich denn getrieben? Wieso lebte ich an diesem einen Ort, mit diesem einen Mann, mehr als auch nur einen Tag? Sein verdammter Hauch! Er meinte, mich zu lieben, und wollte mich so bei ihm halten!“ Der weise Mann wollte ihr antworten, doch war sie wild geworden und fauchte ihn an. „Was soll ich dir vertrauen, Menschenskind? Du wolltest mich genauso fortlocken!“ Doch der weise Mann sprach nur ruhig: „Ich täuschte dich, um dich hierherzubringen, das stimmt. Aber ich werde keine Hinterlist sprechen, wenn es einfache Worte tun. Du denkst jetzt klar. Wirst du hören, was ich zu sagen habe?“

Am dritten Tag suchte der weise Mann den Spuren der Salamander, nachdem er am Haus wieder durch das Fenster hindurch seinen ersehnten Krug erspäht hatte. Sie führten ihn zu einem Feld, wo ein Gehege errichtet worden war. Darin stand der Fuchskeal und mischte mit seltsam menschenähnlichen Händen an einem Gebräu. Die Salamander standen Wache, doch waren sie nicht aufmerksam. Wieso auch? Wer ihnen zu nahe kam, würde schon bald in Flammen stehen. Was sollten sie denn fürchten?

Was fürchtet denn das Feuer? Das Wasser, natürlich. Der weise Mann griff mit der Hand nach seinem Speer und im Geiste nach seiner Gabe. Aus den Schatten sprang er auf sie zu und schleuderte ihnen eine große Traube Wasser entgegen, der ihnen die Orientierung nahm und ihre Flammen löschte. Ehe sie sich erholen konnten, hatte er seinen Speer durch die Augen des Einen, dann des Anderen gerammt. Diesem Angriff konnten selbst die Keal nicht standhalten. Nur der Fuchskeal blieb noch, zitternd in seinem Gehege. „Wirst du mich auch so töten, Mensch?“ fragte er ängstlich. „Ich tötete, um zu dir zu gelangen, das ist wahr. Aber ich werde nicht kämpfen, wenn es einfache Worte tun. Du bist jetzt frei. Wirst du hören, was ich zu sagen habe?“

Am fünften Tag war der weise Mann bereit. Er hatte das Baleo vorbereitet, das den Weg in die Geisterwelt bereitet, denn er wusste, dass sein menschlicher Körper der Hitze des Erdkeals nicht gewachsen war. Die Zeit war gekommen, sich seinem Feind zu stellen. Er näherte sich dem Haus in der Geisterwelt und rief eine Herausforderung. Die überwältigende Präsenz des Erdkeals kam ihm entgegen, eine Mischung aus Wut und Stolz mit einem kleinen Hauch Unglauben, dass so ein kleines Wesen den Kampf mit ihm suchte.

Aber ein weiser Mann kämpft nicht, wenn eine List reicht. Den ganzen vorherigen Tag hatte der weise Mann mit den kleinen Keals und Kealis gesprochen, die sich um sein Land herumtrieben. Er kannte sie schon aus seiner Zeit dort. Sie waren nicht glücklich gewesen, als der Erdkeal ankam, und hatten keine große Lust, ihm den vermeintlich geziemenden Respekt zu erweisen. Jetzt rief er sie an.

Um das Haus herum stand auf einmal ein Feld mit hochgewachsenen Sonnenblumen, Gras und Weizenpflanzen. So hoch wuchsen die Pflanzen, dass der weise Mann sich dort einer Feldmaus gleich verstecken konnte. Doch der Erdkeal war gewitzt. Er kam zu dem Feld in der Gestalt einer Aschewolke, die alles bedeckte, alles ertastete – und was sie ertastete, verglühte. Beinahe berührten ihn schon die grauen Flocken, da rief der weise Mann die Keal der Brisen und Zephyre zu sich, die ihn ummantelten und die Aschewolke fernhielt. Doch jetzt hatte ihn der Erdkeal gefunden und die Asche wurden zu fester Erde, die den weisen Mann zu begraben drohte. Schnell wie ein Gedanke rief der weise Mann die Keali des nahen Baches zu sich, die ihren Strom verdichtete und den irdenen Sarg wegspülte. Aber der Erdkeal veränderte sich wieder, und plötzlich sog seine Form das Wasser auf und wurde glitschig, schwer, und saugend – und der weise Mann fand sich bis zu der Hüfte in Treibsand wieder. Er wurde durch die Keali eines nahen Baumes gerettet, die ihm einen Ast reichte, woran er sich hochzog und vorsichtig über den Treibsand rollte, der jetzt aber härter wurde und steiniger und in dem die Hitze des Vulkans wieder spürbar wurde. Doch ein Keal der Lüfte und der hohen Orte hörte den Ruf des weisen Mannes und trug ihn auf seinen Flügeln in die Höhe, fort von der tödlichen Hitze, fort von dem Haus in der Geisterwelt, fort von dem größten Teil des Erdkeals, der mittlerweile der Herausforderung in die Geisterwelt gefolgt war.

Zurück in unserer Welt blieb nur noch ein kleiner Teil, klein genug, um vom Gebräu eines Fuchskeals vorübergehend eingeschläfert zu werden, klein genug, um eine Keali der Jagd nicht aufhalten zu können, die mit einem bestimmten Krug aus dem Haus floh.

Denn Worte, meine Freunde, können jeden Krieger in den Schatten stellen, wenn sie zur richtigen Zeit den richtigen Ohren gesagt werden.

Von dem seltsamen Gefangenen
Hören statt lesen!

Inanna Veh! Denn die heutige Geschichte kommt von einer Familie, die sie über Generationen hinweg weitergegeben hat. Ich hatte das Glück, bei ihnen zu Besuch zu sein, als sie zum Jahrestag zusammenkamen, und so durfte ich mithören.

Es heißt, dass eine Tochter dieser Familie in einer Zeit des Krieges die Anführerin ihres Stammes war. Sie hatte einen starken Arm und einen geschickten Geist, aber sie war vor allem dafür bekannt, dass seit langem ihr Verstand ihr Herz unterworfen hatte. Sie war klug, aber dabei oft kalt – eine Art Mensch, die man in Kriegszeiten gerne an seiner Seite hat, aber auch eine Art Mensch, die ihre Verbündeten bisweilen beunruhigte.

Vielleicht war das der Grund, warum ihr die Aufgabe zufiel, nach der entscheidenden Schlacht über die Gefangenen zu richten. Ihr Kriegsherr konnte das nicht selbst: er musste seinen Schamanen dabei helfen, die Keal zu besänftigen, die auf die Gegenseite gekämpft hatten – denn in dieser Zeit kämpften die Keal noch manchmal Seite an Seite mit den Menschen. So musste sie entscheiden, was mit den vielen Gefangenen passieren sollte, die nach dem Sieg über den Feind verblieben waren.

In vielen Dingen hielt sie sich an die Traditionen ihres Volkes. Denjenigen, die für sich selbst sorgen und kämpfen konnten, stellte sie die Wahl, ob sie sich an den heiligen Orten verpflichten wollten, um diese zu pflegen, oder ob sie sich das Vertrauen eines der siegreichen Klans erarbeiten und so eine neue Familie finden wollten. Denjenigen, die verletzt oder gebrechlich waren, bot sie sieben Tage an, um bei den Siegern Fürsprecher für sich zu finden, die für sie Hilfe erbitten sollten, oder einen ehrenvollen und schnellen Tod. Und denjenigen, die sonst auf ihren eigenen Stamm angewiesen gewesen wären – den Kindern, schwangeren Frauen, und allen Nichtkriegern, die wertvolles Wissen oder Fähigkeiten hatten und bereit waren, diese zu teilen – diesen sprach sie Nahrung und Werkzeug zu, genug, um sich einen Mond lang selbst zu versorgen, und ließ sie frei, auf dass sie sich ein neues Leben suchen könnten.

Doch einer dieser letzten Sorte wollte das Angebot nicht annehmen. Er war ein fahler, eingefallener Mann, der zu schwach war, eine Waffe zu halten, über den jedoch geflüstert wurde, er sei der wichtigste Berater des besiegten Kriegsfürsten gewesen. Doch nun lümmelte er den ganzen Tag im Gefangenenlager im Schatten eines toten Baums und schmunzelte mit schiefem Grinsen vor sich hin. Die Stammesführerin bot ihm Nahrung und Wasser an, aber er lachte ihr ins Gesicht. „Pah! Dein Essen will ich nicht, es würde mir den Magen verderben. Dein Wasser würde mich krank machen. Und bötest du mir ein feines Federbett zum Schlafe, ich würde ablehnen, denn sonst fände ich dein Messer in meinem Rücken, ehe ich aufwachte!“

Auch wenn seine Worte seltsam waren, sie ließen die Stammesführerin wie so vieles kalt. Wenn er nicht wollte, dann sollte er auch nicht bekommen. Stattdessen trug sie ihm auf, Fürsprecher zu finden oder in sieben Tagen zu sterben, und ging zum nächsten Gefangenen. Aber dennoch – die Worte des fahlen Mannes verfolgten sie den restlichen Tag. Ihre Gedanken nagten daran wie ein Hund an einem Knochen, der noch das letzte Stück Mark sucht.

Am nächsten Tag war das Festessen zur Feier des Sieges. Die Stammesführerin hatte ihre Jäger und Jägerinnen herausgeschickt, um ihren Teil beizutragen, aber besonders stolz war sie auf die alte Kräuterfrau ihres Stammes, die weit und breit als die beste Köchin bekannt war. Auch sie hatte die Nacht bei der Suche der besten Gewürze verbracht und war mit Pfeffer und der feinsten Gelbwurz zurückgekehrt. Die Stammesführerin wusste, dass diese Kochkunst ihrer Familie unter ihren Verbündeten große Ehre verschaffen würde, und so nahm sie es auf sich, einige Stunden vor dem Fest bei der Kräuterfrau vorbeizusehen, ob diese Hilfe bräuchte.

Doch als sie das Kochzelt betrat, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Kräuterfrau lief nicht wie sonst geschäftig umher, sondern hatte sich träge auf den Kissen neben dem großen Kessel des Stammes niedergelassen. Es roch würzig, aber die Stammesführerin merkte einen ranzigen Unterton, der sie fast würgen ließ. „Ich sagte doch, dass mir solches Essen den Magen verderben würde,“ kicherte die kratzende Stimme der Kräuterfrau, die sich nicht bewegt hatte. Und jetzt, als die Stammesführerin nähertrat, sah sie hinter der Kräuterfrau einen kleinen Haufen Knochen, die Reste des Fleischs, der nun im Kessel köchelte, Knochen, die für Beutetiere erstaunlich groß waren, und nicht nur das, sondern da lagen auch Stoffreste und Fetzen von Leder, genau wie die, die man auf einem Schlachtfeld findet, wenn die Aasgeier schon ein paar Tage den Vortritt hatten.

Jeder, der bei Sinnen ist, weiß, dass ein solches Verbrechen nur eine Antwort erfahren darf. So auch die Stammesführerin, die ihre eigene Unruhe fest ergriff und in die Tiefe ihres Herzens drückte, deren kalter Verstand sie nun wies, die Tat der Kräuterfrau vor dem Stamm zu offenbaren und ihr Leben vor den Augen aller zu beenden. Doch widerstrebte es ihr, die schlaffe Gestalt der alten Frau anzufassen, um sie aus dem Zelt zu schleifen. Sie war abgestoßen von diesem leeren Grinsen, dieser wie toten Stimme. Und so griff sie zu ihrem Messer und nahm die gebührende Rache selbst, alleine, und berichtete ihrem schockierten Stamm von dem, was die Kräuterfrau getan hatte. Für ihre Familie gab es an diesem Abend kein Festessen, sondern nur die bittere Mahlzeit der Trauer.

Am nächsten Tag jedoch gab es wieder neue Aufgaben, so wie an jedem Tag – denn das Leben lässt keinen stehenbleiben. Trotzdem nahm sich die Stammesführerin, ohne recht zu wissen, wieso, die Zeit, nach den Gefangenen zu sehen, und in ihr entspannte sich etwas, als sie bei ihrer Inspektion die lümmelnde Gestalt des alten Mannes an seinem toten Baum wiedererkannte. So widmete sie sich den eigentlich drängenderen Aufgaben des Tages.

Doch die Geschäftigkeit der Stammesführerin wurde unterbrochen, als man ihr davon berichtete, dass einige ihrer Leute und auch der Gefangenen krank geworden waren. Manche kämpften nur gegen die Übelkeit, andere lagen schon fiebernd auf ihren Schlafrollen. Sie eilte zu den Kranken, und dabei arbeitete ihr kalter Geist an dieser neuen Herausforderung. Als sie die Betroffenen angesehen hatte, war sie sich sicher: dies war keine Krankheit, denn dafür waren zu viele zu schnell ihr verfallen. Es konnte nur eine Vergiftung sein, und es gab nur eine Möglichkeit, wo dieses Gift hergekommen sein konnte.

Am Brunnen, den ihr Stamm nutzte, war eine Wache aufgestellt, ein alter und vertrauenswürdiger Freund der Stammesführerin. Doch als sie dort ankam, war niemand zu sehen. Sie ging um den Brunnen herum und – da! Auf der Erde lag ihre Wache, reglos, in einem unordentlichen Haufen, als hätte man ihn niedergeschlagen. Wachsam beugte sie sich zu ihm, um zu prüfen, ob er noch lebte, und stolperte zurück, als sich sein Kopf zu ihr drehte und er mit schiefem Grinsen sagte: „Na, macht das Wasser nicht doch krank?“ Jetzt sah sie, dass er seinen Arm träge um den Kübel geschlungen hatte, mit dem Wasser aus dem Brunnen geholt wurde. Und in diesem Kübel lag etwas, das aufgebläht und nass war, etwas, das unsauber von seinem Ursprung abgetrennt worden war, etwas mit fünf Fingern, an dem noch Fetzen von Haut klebten, und… war das die Familientätowierung der Kräuterfrau? Die Kräuterfrau, die sie gestern Abend noch begraben hatten?

Der kalte Geist der Stammesführerin stockte, zögerte. Hier war etwas, das sie nicht verstand, das in ihr eine Hilflosigkeit und ein Grauen auslöste, die sie nie zuvor gekannt hatte. Noch immer lachte das verschmitzte Gesicht ihres alten Freundes sie aus. Er hatte das Wasser vergiftet – nein, nicht nur das, er hatte es geschändet – und jetzt sprach er zu ihr mit Worten, die aus seinem Munde keinen Sinn ergaben. Nur in einem waren sich ihr Verstand und ihr erschüttertes Herz einig – was immer das hier war, es musste aufgehalten werden. Mit einem einzigen Hieb ihrer Waffe beendete sie die Existenz dessen, was wie ihr Freund aussah.

Von Schrecken geplagt eilte sie zurück zu dem Gefangenenlager. Dieses Mal begnügte sie sich nicht damit, von der Ferne zu schauen; sie stürmte zum toten Baum und zum fahlen Mann, der darunterlag. Sie schrie ihn an, was er getan hatte, und er lachte nur. „Gar nichts, was soll ich denn getan haben? Ich bin nur ein schwacher Mann! Ich habe meine Zeit damit verbracht, Fürsprecher zu finden, aber du hast sie alle umgebracht – als würdest du wollen, dass ich sterbe.“

Sie erstarrte. Was auch immer vor ihr lag, es hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass es die Quelle des Übels war, wie auch immer das möglich sein konnte. Aber es zeigte keine Angst, obwohl sie nun direkt vor ihm stand, obwohl ihre Hand zitternd an ihrer Waffe lag. Warum? „Aber ich weiß zumindest, dass du mich nicht töten wirst,“ fuhr er fort, „denn du bist ja eine Frau von Ehre. Sieben Tage hast du mir versprochen, noch ist erst eines vergangen!“ So, das war es? Kälte durchflutete sie wieder. Ihre Hand war ruhig, als sie blitzschnell nach ihrem Messer griff und es bis zum Griff in sein Hals rammte, um dieses Lächeln auszumerzen, diese Stimme aufzuhalten, dieses Lächeln auszumerzen! Sie beachtete die anderen Gefangenen um sie herum nicht, die erschrocken zurückwichen, die Wachen, die unterdrückt aufriefen, sondern beobachtete den fahlen Mann – das Ding – so lange, bis der Blutfluss versiegte. Seine Augen waren im Tod glasig geworden, aber es grinste immer noch. Genau wie die Kräuterfrau gegrinst hatte. Genau wie die Wache gegrinst hatte.

Ihre Ruhe gab langsam einer Frage nach, die immer noch durch ihren Geist hallte, an der sie immer noch nagte. Der fahle Mann hatte gesagt, dass das Essen ihn verderben, das Wasser ihn krankmachen würde. Aber was war mit der dritten Drohung? Auf einmal zitterten ihre Beine wieder. Sie sprang auf und rannte, rannte den ganzen Weg zu ihrem eigenen Zelt, groß und geräumig, so wie es sich für eine Stammesführerin ziemt, und schön, so wie es ihre Liebhaberin fein gestaltet hatte.

Im Abendrot war das Innere ihres Zelts schummrig. Nur eine Kerze brannte bei den weichen Schlaffellen, wo ihre Geliebte sich träge wie eine Katze räkelte. Sie schnurrte: „Na, komm doch zu mir ins Bett, und lege dieses Messer ab! Was willst du denn damit?“ Ob die Kälte in ihr ihrem Verstand oder ihres Grauens entsprang, wusste die Stammesführerin nicht mehr. Aber die Kälte kannte die Antwort auf diese Frage: „Dir zuvorkommen, Bestie!“

Erst, als ihre Klinge den Widerstand des weichen Fleisches spürte, erst, als sich die Frau in ihrem Bett nicht mehr regte, erst, als sie die Tränen in ihren Augen merkte – erst dann hörte die Stammesanführerin die Stimme vom Zelteingang, munter mit unterdrücktem Lachen. „Aber das war doch gar nicht ich.“ Leer und erschöpft drehte sie sich um, zum schiefen Grinsen, zu diesen höhnischen, fahlen Zügen.

Es heißt, diese Stammesanführerin sei von ihren eigenen engsten Vertrauten abgesetzt worden, weil sie aus heiterem Himmel zu morden angefangen hat. Aber wir kennen eine andere Wahrheit, den wahren Feind, auch wenn wir nicht wissen, was er ist. Möge dein Verstand und dein Herz dem gewachsen sein, solltest du eines Tages in grinsende, fahle Augen blicken.

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