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Dieser Bereich soll euch helfen, schneller einzelne Geschichten und Informationen zu finden. Die Texte unterteilen sich in zwei Kategorien:

Geschriebene Werke, Texte, Briefe und ähnliches ("Aus den Bücherregalen")

1. Eine kurze Beschreibung der kriegerischen Vergangenheit des Kontinents findet ihr in der "Historie der Kriege".

2. Einen uralten Mythos über die Geburt der ersten Begabten gibt es in der Geschichte von "Iliana" zu lesen.

3. Falls euch interessiert was im Vorfeld zur Con "Schattenhandel" gerade so in der Kaiserstadt passiert, dann lest den "Bericht" des dortigen Wachhauptmanns.

Ereignisse, Gespräche und mündliche Erzählungen ("Was die Mäuse hören können")

1. Einen Überblick über die Götter des Nordens, den priesterlichen Werdegang und das nördliche Schulsystem gibt es in  der "Unterrichtsstunde".

2. Die Mentalität der Geisterjäger und mögliche Umgangsweisen mit Geistern werden in einer nächtlichen "Tirade" erläutert.

3. Einen Einblick in schamanistische Praktiken und die südliche Wahrnehmung der Geister erhält man in "Ein junger Mann, ein alter Mann und ein Baum".

4. Wie die Diavonen über ihre traditionellen Erzfeinde, die Diasyuth, denken, erfahrt ihr in "Wie Katz' und Hund".

5. Die Perspektive der Diasyuth dagegen, erläutert die Geschichte "Über den Ursprung der Wüste".

6. Euch interessiert was für wichtige Interessengruppen es im Norden gibt? Dann lest nach, welche "Stimmen" sich zum tragischen Vorfall in Berbkaa äußern.

Aus den Bücherregalen

Auszüge aus einem alten Folianten mit dem Titel: "Die Historie der Kriege von Ylodern. Eine Studie der Strategien, Formationen und Verläufe verschiedener Kriege und Schlachten unter Einbezug der kulturellen Unterschiede zwischen Nord- und Südylodern." Verfasst von Doctorus Blasileus Waldonie im Jahre 963 nach dem Falle Amrhans:
Historie

 […] Niemand erinnert sich heute noch, warum die Menschen des Südens und des Nordens einst begannen, einander zu bekriegen. Manche Mystiker behaupten, alle Kriege, die wir Menschen seit so langer Zeit gegeneinander führen, seien ein Nachhall des großen und schrecklichen Krieges, bei dem die Götter selbst gegen die Geister in den Kampf zogen und bei dem die Menschen in ihren überirdischen Heeren dienten. Der große Frevel des Vergießens von göttlichem Blut durch die unreine Waffe des Geistes Orakon soll das Gewebe des Schicksals so nachhaltig gestört haben, dass es den Menschen in Stellvertretung von Göttern und Geistern bisher nicht vergönnt war, einen andauernden Frieden zu schließen. Ohne diese These bestätigen oder widerlegen zu wollen, muss gesagt werden, dass es in der verbürgten Geschichte Yloderns keinen Frieden gegeben hat, der länger als zwei Generationen andauerte. […]

[…] Die Kriege formten auch unsere Länder, ihre Gestalt und Kultur. Der Norden, der sich bereits früh dem Götterkult zuwandte, rückte kulturell und politisch immer näher zusammen. Ursprünglich nur eine lose Ansammlung einzelner Königreiche, schlossen alle Könige und Fürsten im 27. Krieg einen länderübergreifenden Pakt. Dieser Säulenpakt war der Beginn des nordischen Kaiserreiches. Laut ihm sollten die einzelnen Länder des Nordens die starken Säulen einer größeren und stärkeren Nation bilden. Er diente ursprünglich nur der Verteidigung gegen den vorrückenden Süden, aber dieser strategische Zusammenschluss zog sehr schnell politische und kulturelle Assimilationsprozesse nach sich. Nach dem Modell der einheitlich verwalteten Tempel der Götter gab es bald einen Herrscher, der über allen stand und dessen Untergebene als Beamte die Länder regierten. Seinem Oberbefehl unterstand das Säulenheer, ein transnationales Militär, losgelöst von feudalen Schwüren und Treueverpflichtungen. […]

[…] Die Wurzeln Arsas sind die innige Verehrung der Geister und eine nomadische Lebensweise. So bedeutet auch das Wort Arse übersetzt Freund der Geister und referiert so auf das Wenige, was allen Ländern des Südens gemeinsam ist. Der südliche König war ursprünglich ein gemeinsamer geistiger Führer Arsas. Er war verantwortlich für den beständigen Kontakt und Bund mit der Geisterwelt, schlichtete zwischen verstrittenen Stämmen, organisierte die Verteilung begrenzter Ressourcen und versorgte die heiligen Stätten der Länder. Doch das Königtum wandelte sich im Verlauf der Kriege immer mehr zu einer militärischen Führung. Allein der südliche König bzw. die Königin kann die große Sharweh ausrufen, eine Versammlung aller Arsen, um dort den Krieg zu verkünden. Die Uneinheitlichkeit der südlichen Heere macht ihre Vorgehensweisen oft nur schwer berechenbar, kann einem fähigen nordischen General aber auch zum strategischen Vorteil gereichen. […]

[…] Unter unserem weisen und gütigen Kaiser Reinwert IV. war es, dass nach 10 Jahren des Krieges auf dem Feld von Marisén der entscheidende Sieg gegen den Süden errungen wurde. Seine Truppen schlugen im Verbund die Stämme Arsas nieder und töteten dabei nicht nur die Mehrheit aller Krieger und Stammesfürsten, sondern auch den südlichen König Nurmal. Die Überlebenden der Schlacht erklärten sich daraufhin bereit, den Friedensvertrag von Terén zu unterzeichnen, und gaben den natürlichen Nachfolger Nurmals, seinen siebenjährigen Sohn Dorian, in die Obhut des Nordens. Sie stimmten der Errichtung von Klöstern der Götter in ihren Ländern zu und verpflichteten sich zu einer jährlichen Wiederholung des Friedensschwurs an den Kaiser. Ebenfalls sollten sie jährlich Reparationszahlungen an die Säulenpaktländer leisten und einen Großteil ihrer Kinder zur Erziehung in den Norden bringen. Seitdem überwachen Statthalter des Kaisers die Vorgänge am südlichen Königshof und die Ressourcenverteilung. […]

Iliana
Auf einem sehr alten Geschichtenstein an der Küste Berbkaas stehen in veralteter Schrift vier Legenden aus der Vorzeit. Jede der Legenden nimmt eine von den vier Seiten des mannshohen Steins ein. Dies ist die Legende von jener Seite, die dem Meer zugewandt ist:

Iliana von Aravell war die Tochter eines mächtigen Flussherren und zu ihrer Zeit das schönste Menschenkind unter der Sonne. Am Tag ihrer Geburt wurden drei neue Gestirne geschaffen, welche man heute Jaspis, Minkor und Gibrad nennt. Am stärksten aus diesem Band leuchtet Jaspis, der Stern der Liebe und tatsächlich liebte ein jeder das Mädchen beinahe schon auf den ersten Blick. Auch die Keal waren empfänglich für Ilianas besondere Schönheit und Reinheit. So geschah es, dass sich der große Geist Orakon, der Herr des unterirdischen Feuers und der Metalle, in sie verliebte. Als Bruder von Shamash, der goldenen Sonne und dem Himmelsfeuer, ist er einer der mächtigsten Elementargeister. Er beobachtete das Menschenkind fünfzehn Sommer lang und fasste dann den Mut sich ihr in der Vollmondnacht ihres Geburtstages zu zeigen. Doch er war so ungestüm und wild in seinem Werben, um die junge Maid, dass er sie erschreckte und sie ihn zurückwies. Tief verletzt zog Orakon sich zurück, doch konnte er seine Liebe für Iliana nicht vergessen und so suchte er sie noch zweimal auf, um sie um ihre Hand zu bitten. Doch jedes Mal fürchtete sich das Mädchen sosehr, dass sie sein Werben nicht ertrug und davonlief. Schließlich verliebte sich die Maid von Aravell in einen zarten Jüngling aus Berbkaa, mit Namen Ramid, der mit einer wunderschönen Stimme gesegnet war und Ilianas Schönheit in vielen Liedern besang. So wie in diesem Lied:

„Oh du mein Rosenstern“

 

Dein Licht blendet mein Aug,

doch bin ich wohl der glücklichste Blinde,

dass dein Licht es ist - oh Schöne!

welches mein Augenlichte raubt.

 

Rosen blühen auf deinen Wangen,

Mein Augenstern.

Von Rosenduft bist du umfangen,

Mein leuchtend Augenstern.

 

Deine Haut so zart – oh Schöne!

wie ein Schmetterlingshauch.

berührst du mich hinterm Rosenstrauch,

berühren sich Seele und Seele.

 

Meine Augen ruhen auf deinen Wangen,

Mein Rosenstern.

Von deinem Duft bin ich umfangen,

Mein leuchtend Rosenstern.

Die Eltern von Iliana begrüßten diese Verbindung, da er in seinem Land ein mächtiger und wichtiger Mann war. Darum sollte er nach einem Jahr nach Aravell zurückkehren, um seine ihn liebende Braut in sein Heimatland zu führen. Denn nach altem Brauch mussten bei einer solchen Verbindung erst das Wohlwollen der Geister erhandelt und auch in der künftigen Heimat der jungen Frau viele Vorbereitungen getroffen werden.

 

Doch der große Keal Orakon hatte seine Liebe zu Iliana nicht vergessen und wurde eifersüchtig auf das Glück der jungen Liebenden. Er beschloss sich die Abmachung der Liebenden zu Nutze zu machen, um doch noch die Hand der schönen Iliana zu erlangen. Einen Monat vor der Hochzeit schickte er Ramid seinen giftigen unterirdischen Odem, von dem der Jüngling krank wurde und rasch verstarb, ohne seine Liebste noch einmal wiederzusehen. Nach dessen Tod, nahm Orakon Ramids Gestalt an und erschuf im Meer vor der Küste Berbkaars eine zauberhafte Insel aus den Tiefen des Wassers. Auf ihr wuchsen tausenderlei Blumen und Pflanzen und friedliche Berg- und Haingeister wandelten auf ihr im Sonnenlicht. Dieses magische und abgeschottete Reich sollte seine und Ilianas Heimat werden. Mit Hilfe seiner falschen Gestalt führte Orakon Iliana schließlich doch zum Traualtar. Diese bemerkte zwar die leichte Veränderung im Wesen ihres Gemahls, aber er zeigte sich ihr gegenüber dennoch so zärtlich und liebenswürdig, dass sie darüber hinwegsah. So gelang es Orakon letztendlich Ilianas Leidenschaft und Liebe für sich zu gewinnen. Doch sein Verrat an den Liebenden und der Mord an Ramid verfluchten ihre Verbindung.

Ein Jahr nur lebten sie glücklich auf der Insel, solange bis ihr erstes Kind geboren wurde. Orakon erschrak heftig in Ramids Gestalt, als er sah, dass ihr Sohn als hässliches und abstoßendes Wesen das Licht Yloderns erblickte. Die Untat des Vaters hatte die Frucht ihrer Verbindung, die auf Mord und Lügen basierte, im Leib der Mutter vergiftet und entstellt. Zutiefst bestürzt ließ er es ohne Namen in eine verborgene Höhle auf der Insel bringen und erzählte der entkräfteten Iliana ihr Kind sei tot zur Welt gekommen. Doch wirklich sterben lassen, konnte er es nicht und so bestach er ein blindes Weib vom Festland, auf die Insel zu kommen und sich stillschweigend um seinen Sohn zu kümmern. Iliana war todunglücklich und ließ sich kaum von ihrem Mann trösten. Während der kommenden Jahre wuchs ihr missgestalteter Sohn bei der Höhle unter Aufsicht der Amme und freundlicher Geistwesen heran. Mit jedem weiteren Tag offenbarte sich dabei immer mehr, dass seine Stimme und sein Wesen von bezauberndster und lieblichster Art waren, sodass die Amme Mitleid mit dem armen Kind verspürte. Sie bat Orakon seinen lieben Sohn doch zu sich zu nehmen, doch dieser weigerte sich, aus Angst Iliana könne ihn zu Gesicht bekommen und darüber den Verstand verlieren.

Zwei Sommer darauf wurde das zweite Kind geboren, wieder war es ein Junge. Dieses Mal war er vom Äußeren ebenso bildschön wie seine Mutter. Überglücklich schloss Iliana ihr lebendes Kind in die Arme und vergessen war all ihr Unglück bei der ersten Geburt. Auch Orakon strahlte vor Stolz und Glück und die beiden liebten ihren Sohn, den sie Amris – Geschenk der Liebe – nannten und ihre Zuneigung füreinander wuchs darüber. Ihr Glück schien vollkommen.

Doch als die Jahre vergingen und Amris heranwuchs, zeigte sich hinter dem schönen und liebreizenden Antlitz ein bösartiges und hinterhältiges Wesen. Amris tyrannisierte die wenigen Menschen, die mit Iliana und Orakon auf der Insel lebten, quälte unschuldige Tiere und trieb die Geister von sich fort. Er zeigte in seinem ganzen Benehmen einen großen Hass gegen alles Lebendige. Doch am schlimmsten von alledem war seine Stimme. Wenn er sprach war allen, die sie hörten, als würden sie von scharfen Messern durchbohrt und der Junge weidete sich an ihrem Schmerz. Seine Eltern waren zuriefst erschrocken über ihren Sohn und als Amris nach weiteren fünf Jahren, seine jüngere Milchschwester, das Kind einer verstorbenen Freundin von Iliana, beim Spielen zu Tode quälte, verbannten sie ihn schweren Herzens, indem sie ihn auf einem Boot im offenen Meer aussetzten. Durch die eigene Hand töten, konnten sie ihren Sohn nicht, obwohl er sich als durch und durch verderbt erwiesen hatte. Ilianas Schmerz war unaussprechlich und sie zog sich immer mehr aus der Welt der Lebenden zurück. Als sie schließlich wieder Schwanger wurde, verschlechterte sich ihr Zustand so dramatisch, dass nicht sicher war, ob sie und das Kind überleben würden.

Voll des Jammers ging Orakon auf der Insel umher und verfluchte sein schlimmes Schicksal. Schließlich kam er an jener verborgenen Höhle seines Erstgeborenen vorüber, aus welcher er eine wunderschöne Stimme eine traurige Weise singen hörte. Diese Stimme ging ihm so zu Herzen, dass er in Tränen ausbrach und die ganze Last seiner Schuld über ihn hereinstürzte. So ging er zu seiner geliebten Frau und gestand weinend und mit den Fäusten anklagend gegen seine eigene Brust schlagend, seinen Verrat an ihr und dem Jüngling Ramid. Er verriet ihr, dass er in Wahrheit der große Geist Orakon und nicht Ramid sei und dass seine Schuld sie und ihre Kinder ins Unglück gestürzt hatte. Iliana hörte ihn in Ruhe an und als sie die volle Bedeutung seiner Worte begriff, klagte sie laut, weinte und wand sich vor Schmerz. Ihr Haar verlor auf einen Schlag alle Farbe.

Schließlich verlangte sie ihren ersten Sohn zu sehen. Orakon zeigte ihr die Höhle, bedeutete ihr aber, sich nicht eher dem Kinde zu zeigen, oder von ihm abzuwenden, bis sie seinen Gesang vernommen habe. Iliana willigte ein und so schlichen sie sich an die Höhle heran. Sie fanden den Jungen mit seiner alten Amme beim Licht einer kleinen Kerze spielend im Inneren. Schließlich stimmte der Knabe eine alte Weise an und seine Stimme erklang so klar und rein in der Dunkelheit, dass es ihnen Tränen der Ergriffenheit in die Augen trieb. Doch als Iliana sich ihm zeigen wollte, traf das Licht der Kerze sein Antlitz und vor Schrecken brachte sie es nicht über sich ihrem Sohn näher zu kommen. Von Furcht ergriffen floh sie fort von der missgestalteten Kreatur. Als Orakon sie schließlich wiederfand, wurde sie von einem schweren Fieber gepeinigt. Drei weitere Wochen lag sie krank darnieder. Ein Feuer aus Wut, Trauer und Schmerz über den Verrat zehrte an ihrer Lebenskraft. Orakon glaubte schon seine geliebte Iliana müsse im Zorn sterben und so flehte er sie an, Rache an ihm zu nehmen, damit sie in Frieden dem Hundesohn des Zeitgeistes, dem mahlenden Tod, gegenübertreten könne.

In Ilianas Herz war mit der Zeit jedoch eine tiefe Liebe für Orakon gewachsen. Sie liebte nun Orakon selbst und nicht mehr jenen Ramid, den lange verstorbenen Berbkar, den sie nur einen Sommer lang gekannt hatte, wie sie nun wusste. Sie liebte den Ehemann, der Orakon für sie so lange Zeit gewesen war. Dennoch konnte sie ihm seinen mehrmaligen Betrug nicht verzeihen. Darum entschied sie voller Kummer, dass sie die Insel und Orakon für immer verlassen müsse. Nachdem in ihr die Sehnsucht nach der Heimat, einem inneren Frieden und der Wunsch, ihr letztes Kind als Kind der echten Liebe groß zu ziehen, gewachsen waren, linderte sich ihr Fieber und sie genas.

Orakon trauerte zwar um den Verlust seiner geliebten Frau, doch er akzeptierte ihre Entscheidung. Zum Abschied bat sie ihn darum, den Jungen aus der Höhle zu lassen und ihm für immer die Abgeschiedenheit der wunderschönen Insel als sichere Zuflucht vor den Menschen zu schenken, damit sie ihm ob seines Äußeren kein Leid zufügen würden. Zum Abschied schenkte Orakon ihr zwei Dinge: ein Schiff das sie überall binnen eines Tages und einer Nacht hintrug und ein Amulett für ihr drittes Kind. Es war ein magischer Gegenstand, der sich in den Händen derer, die von Orakons Blut stammten, in jenes Objekt verwandeln würde, das sie gerade am nötigsten brauchten. Als Iliana gegangen war, machte Orakon aus seiner Insel ein einsames Paradies, auf dem er nur einige blinde Diener und seine Freunde, die Berg- und Haingeister zurückließ, um seinem Sohn Gesellschaft zu leisten. Er gab ihm den Namen Jinmai, was in alter Sprache „Geliebter Sohn“ bedeutete und verließ dann die Insel.

Unruhen
Ein Bericht von Lorenzius Gabus, Hauptmann der X. Wachgardisten, Kaiserstadt, westliche äußere Distrikte:

Mit Schrecken muss ich berichten, dass die Randbezirke im Westen der Stadt gänzlich der Anarchie anheimgefallen sind. Die Straßenzüge haben sich in bittere Schlachtfelder voller Barrikaden verwandelt. Häuser und Läden brennen lichterloh. Die Feuer und das Schlachten toben nun etwa in der dritten Woche. Anbei füge ich dem Bericht eine Liste der verwundeten und verstorbenenn Stadtgardisten zu. Nach intensiver Nachforschung hat der investigatorus des Ordos Tutelae ermittelt, dass die so plötzlich ausgebrochenen Unruhen wohl mit einer Verschiebung der Machtverhältnisse in der verbrecherischen Unterwelt des Kaiserreichs in Zusammenhang stehen. Dabei fiel der Name „Atticus“ erstaunlich oft.

Diesen Namen haben wir nur durch intensive Befragung in Erfahrung bringen können. Offenbar handelt es sich dabei um den kürzlich verstorbenen Atticus Philantropenos.

Wie sich nun erahnen lässt, hat sich in den dunklen Ecken und fragwürdigen Vereinigungen die sich kreuz und quer durch das Kaiserreich ziehen eine Lücke aufgetan. Offenbar versuchen verschiedene Kräfte diese Lücke zu füllen und sich als neue Machthaber der Unterwelt zu etablieren.

Ich erbitte hiermit die Befehlsgewalt über die in der Kaserne stationierten Soldaten der kaiserlichen Armee und die Abriegelung der entsprechenden Distrikte.

Gez.

L. Gabus, Hauptmann der Wachgardisten

Was die Mäuse hören können...

Oh Götter
Eine Unterrichtsstunde

“Wer kann die großen Götter gemäß ihres Ranges in den drei Amphoren aufzählen und zuordnen?” Stille herrschte in dem stickigen Raum. Eine nervöse und schwitzige Stille. Die Jungen in ihren einfachen braunen Kutten hatten ihre Blicke entweder auf ihre Pulte gesenkt oder starrten, scheinbar in ernsthafte und tiefgründige Überlegungen verstrickt, auf die Wände oder Hinterköpfe ihrer Sitznachbarn. „Niemand?“ Die gemessenen Schritte des Magisters Doctus Anselmus wanderten in nervenaufreibenden Bahnen zwischen den Reihen seiner Schüler umher. Sie alle waren noch nicht lange in der Schola. Erst vor einem Monat wurden die meisten von ihnen zum ersten Mal in die Stadt zur Schule geschickt, um ihrem jeweiligen Stand nach die angemessenen theoretischen Grundkenntnisse zu erlernen. Im Alter von durchschnittlich zehn Jahren gingen die meisten Kinder für ein Jahr in die kirchlichen Schulen, um ihre Fertigkeiten, die sie seit ca. 4 Jahren im Gewerbe ihrer Eltern ausbildeten, mit theoretischen Kenntnissen anzureichern. Viele lernten Lesen und Schreiben, manche sogar rechnen. Es gab Chemie und Physik für einige, aber auch Handarbeit, Werken und entsprechende Materialkunden. Nur zwei Fächer waren für alle gemeinsam verpflichtend: Geschichte und Religion.

Wer nach seinen Anlagen für eine weitere Tempellaufbahn infrage kam, wurde nach diesem Jahr seinen Eltern abgehandelt und in die Schola Sacra geschickt. Dort würden sie sich nach einem Jahr für einen bestimmten göttlichen Aspekt entscheiden, nach dem sie ihr Leben ausrichten wollten und nach insgesamt drei Jahren der Grundausbildung vom Disciplicus zum Qualificatus ernannt werden. Nach zwei weiteren Jahren würden sie, wie Anselmus selbst es vor nicht allzu langer Zeit getan hatte, die heiligen Eide schwören und den Titel Magister erhalten. Die Karriereleiter der Tempel ging von da an über den Artifex zum Academicus Amphorus oder Sacerdos Amphorus, was im Grunde eine Entscheidung zwischen einem zurückgezogenen Leben im Kloster und der Universität oder einer weltlichen Verpflichtung in den Tempeln bedeutete. In jedem leidlich großen Ort fand sich eine allgemeine Schola, die von Magistern geführt wurde. Darüber hinaus gab es in jeder Großstadt eine Schola Sacra unter der Leitung der Artifexe. Von da an führte der Weg in die großen Tempel und Universitäten der Hauptstädte jeder Provinz. Nur wer von entsprechendem Geblüt war, konnte von dort aus noch weiter bis an die Höfe der Adligen oder sogar bis an den Hof des Kaisers vordringen, als Sacerdos Superbus Amphorus.

Magister Anselmus seufzte still in sich hinein. Dies war ein Weg, den er nicht beschreiten konnte, da er nur der Sohn eines Nähers war. Aber wenn er es richtig anstellte, konnte er es vielleicht bis in die höheren Ränge der Universität schaffen. Er war schließlich erst zwanzig. Jedes Jahr bewarb er sich um einen der begrenzten Stipendiatsplätze, um seinen Artifex zu machen. Aber solange er keinen höherrangigen Fürsprecher fand, war es nahezu aussichtslos. Solange musste er seine Zeit noch mit diesen nervösen und lauten Bälgern irgendwelcher Leute vergeuden. Seine Studien der sakralen Theorie der Transzendentalität der Welten litten bereits sehr unter seinem Zeitmangel und den strapazierten Nerven.

Er ließ seinen Blick unwirsch über die Reihen gesenkter Köpfe kreisen. Viele der Kinder hatten in den ersten Wochen zu viel mit Heimweh oder ihrer mangelnden Disziplin zu kämpfen, um sich wirklich auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber schließlich musste es mal vorwärts gehen. Er fand einen besonders dicken Kopf in der Menge und stürzte sich auf ihn. „Richelm, sag du uns doch was du über die Götter weißt.“ Richelm war der Sohn eines Färbers, wenn Anselmus sich richtig erinnerte. Die meisten Stände beteten nur zwei oder drei Götter im Besonderen an. Die übrigen waren für sie abstrakte Größen, mit denen sie kaum in Berührung kamen. Richelm stand schicksalsergeben auf und begann mit unsicherer Stimme seine Aufzählung: „Es gibt den großen Baumeister Bobeian. Er ist der Herr über alle anderen und…und…“

„Ja?“, fragte Anselmus scheinbar geduldig.

„Und für ihn ist die erste Amphore.“

„Richtig. Wofür steht Bobeian?“

„Für Bauarbeiten.“, sagte der Junge schnell.

„Du meinst wohl für die höhere Kunst der Architektur und das Prinzip der allgemeinen Kreation und Inspiration aller schaffenden Berufsstände?“ In Anselmus Stimme schlich sich eine leichte Gereiztheit. Seit zwei Wochen besprach er die Ordnung und Aspekte der Götter mit den Kindern, aber es blieb einfach kaum etwas hängen. „Äh…ja. Genau.“, sagte Richelm matt.

 

„Also schön. Weiter. Bobeian wird durch die erste und höchste Amphore repräsentiert. Wen repräsentiert die zweite Amphore?“ Man konnte quasi hören, wie es im Kopf des Jungen arbeitete. „Da wäre zunächst der Schmied Rostrus, der aber auch von allen anderen Handwerkern angebetet wird. Und dann gibt es noch Vellan, den Bauern, der aber auch von Gärtnern und so angebetet wird. Und dann…dann gibt es noch den Wanderer, den alten Eremiten.“ „Falsch!“, unterbrach ihn Anselmus. „Der Eremit ist in keiner der drei Amphoren repräsentiert. Du kannst dich setzen.“ Erleichtert ließ Richelm sich auf seinen Stuhl zurückplumpsen, wie ein nassgeschwitzter Stoffballen. „Harren, kannst du uns sagen, wieso das so ist?“ Ein kräftig gebauter Junge mit klarem Blick erhob sich ohne zu zögern. „Weil der Wanderer auch der verlorene Gott genannt wird. Er hat die Gemeinschaft der anderen Götter verlassen, um unerkannt zwischen den Welten umherzuziehen. Darum ist Bobeian, der Erschaffer, auch zum obersten Gott geworden. Vorher führte Erebur, der Eremit sie an.“

„Heißt das, wir beten den alten Eremiten nicht mehr an?“

„Nein, Magister! Wir würden keinem der großen Götter den Respekt verweigern. Aber weil keiner weiß, wo sich Erebur aufhält, huldigt man ihm an kleinen Schreinen an Wegen oder an besonderen Landmarken.“ Anselmus nickte zufrieden und bedeutete Harren sich wieder zu setzen. Der Junge war vielversprechend.

 

Anselmus nahm seine Bahn zwischen den Reihen der Schüler wieder auf. „Also weiter. Welche Götter finden sich neben Rostrus und Vellan noch in der zweiten Amphore? Liam, weißt du es?“ Ein unscheinbarer Junge mit Mausgesicht erhob sich und sprach mit dünner Fistelstimme. „Dort sind noch Kelfir, die Jägerin und Belor, der mächtige Krieger.“, seine Augen blitzten bei ihrer Erwähnung auf, wie die einer Ratte, die an einen Kadaver denkt. „Aber auch der Seefahrer Ravenn und Alyr, die Heilerin.“ Anselmus wartete kurz, aber es kam nichts weiter, also sagte er: „Richtig. Neben den beiden wichtigsten aus der zweiten Amphore, Silen, dem gelehrten Wissenssucher und Atli, dem Advokaten und Rechtsprecher, gibt es all diese Götter in der zweiten Amphore. Und wer ist in der dritten Amphore und warum?“ Diesmal meldete sich ein Junge freiwillig. Anselmus konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, also bedeutete er ihm lediglich mit der Hand sich zu erheben. „Die dritte Amphore oder auch, die gebrochene Amphore, steht für die gefallenen Götter. Dort ist Viviana, die Göttin der Liebe. Sie ist wahnsinnig geworden, als der Eremit sie verlassen hat. Und Marduk der Alchimist, der aber die verbotene Magie in die Welt gebracht hat und darum von Bobeian verstoßen wurde. Auch Amrhan, der Barde. Die Götter trauern um ihn, weil er im großen Krieg gegen die Geister von Orakon schwer verwundet wurde und sich in den Ledhesee stürzte.“

„Das hast du sehr richtig aufgesagt…Du darfst dich setzen.“, Anselmus räusperte sich. „Darum ist die dritte Amphore gebrochen und darum wird alles, was diesen drei Göttern geopfert wird zerstört, bevor wir es in die Amphore geben. Als Ausdruck der Trauer.“ Das Ergebnis war im Endeffekt doch viel besser, als Anselmus es erwartet hatte. Zufrieden kehrte er an sein Lehrerpult zurück und begann die nächste Lektion.

Tirade
Eine Tirade bei Mondschein

Das kleine Ruderboot mit den vier düsteren Gestalten darin wurde zu Wasser gelassen. Zwei von ihnen ergriffen die Ruder und steuerten das Boot auf eine kleine Felsgruppe zu, die in einiger Entfernung aus der ruhigen See ragte. Das Mondlicht brach sich an der schwarzen Wasseroberfläche. Der dritte Mann wandte sich dem vierten zu, der noch etwas jünger war als seine Begleiter. „Also, hör zu, Yoren, der Geist, dem wir gleich begegnen werden, wird auf keinen Fall so sein, wie du es erwartest. Die Biester überraschen einen jedes Mal. Aber egal ob er schrecklicher oder harmloser wirkt als in deiner Vorstellung: Piss dir nicht ins Hemd oder bilde dir ein, er wäre irgendwie freundlicher, nur weil er ein nettes Gesicht hat. Um diesen Kampf zu überleben ist es wichtig, dass wir vier uns aufeinander verlassen können, hörst du?“ Der junge Mann, der als Yoren angesprochen wurde, nickte ernst. Ein feiner Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn, aber er traute sich nicht, ihn wegzuwischen, aus Sorge, die anderen würden ihn für feige halten.

 

„Du bist noch neu in unser‘m Geschäft, deswegen sag‘ ich dir das nochmal, bevor du uns gleich reinreitest. Das soll keine Beleidigung sein. Wir alle ha‘m irgendwas beim ersten Mal versaut. Aber weil das hier ein größerer Brocken is‘, geh‘n wir das jetz nochmal durch. Wäre doch beschissen, gleich beim ersten Mal draufzugeh‘n.“, Rasmus mit dem widerlichen Narbengesicht grinste ihn keineswegs einfühlsam an. Yoren presste nur die Lippen zusammen und schwieg. Die anderen beiden ruderten. Ihre Gesichter lagen unter ihren Kapuzen im Dunkeln. „Vor einiger Zeit hat der Geist dieser unterseeischen Felsklippen hier sich drauf verlegt, bei Flut Schiffe aufs Riff zu locken und die armen Seelen drauf zu fressen. Die Seeleute hier sind ausgeflippt, als jede Woche Leichenteile angespült wurden und in ‘nem Monat schon das dritte Schiff verlor‘n ging. Sie weigerten sich, den Hafen zu verlassen, drum hat der Baron ‘n feines Sümmchen für uns springen lassen. Wir ha‘m es also mit ‘ner heimtückischen, blutrünstigen Bestie zu tun. Wir werden sie töten und dann sehn, ob sie in ihrem nächsten Leben ‘n besseres Benehmen an den Tag legt.“ Rasmus spukte aus. „Wenn du mich fragst, ist es ‘ne Schande, dass man die Viecher einfach nich‘ ausgerottet kriegt. Früher oder später machen die immer Ärger. Aber was soll‘s, so kriegen wir auf jeden Fall Aufträge, da können die Priester noch so sehr gegen uns wettern. Von wegen Gottvertrauen, so’n Scheiß! Wenn dir ‘n Geist erst einmal so richtig ans Bein pissen will, dann helfen die Götter dir da auch nich‘ weiter. Drum gibt’s auch Abschaum wie uns!“ Seine Zähne blitzten im Mondschein auf. Die große Zahnlücke im oberen Gebiss schadete seinem gefährlichen Aussehen nicht.

 

„Gegen Geister kann man kämpfen, man kann sie verletzen und töten. Dann dauert es, bis sie wiedergebor‘n werden und wieder ihre volle Stärke erlangen, das heißt, man hat erst mal Ruhe vor ihnen und ihren lästigen Naturerscheinungen. Aber rechne damit, dass sie zäher sind als wir. Außerdem können sie scharfe Zähne und Klauen hab‘n. Manche speien Gift oder halten and‘re Überraschungen für dich bereit. Außerdem is‘ es oft hilfreich, wenn man im Kampf mit denen, ihr Wesen mitdenkt. Der Geist, gegen den wir gleich antreten werden, is‘ ‘n Geist des Meeres, das heißt im Wasser wird er wendiger und stärker sein als an Land. Drum versuchen wir, ihn auf die Felsen zu locken und danach nich‘ mehr ins Wasser zu lassen. Manche Meeresgeister können drüber hinaus Fische und anderes Getier zu Hilfe rufen oder das Wasser selbst gegen dich aufbringen. Das verdammte Fischgesicht hier is‘ sehr stark, drum sind wir dieses Mal zu viert. Also halt‘ deine Blase unter Kontrolle und mach uns keine Schande!“ Rasmus vergewisserte sich mit einem Blick, dass der Junge verstanden hatte. Dann wandte er sich endlich ab und schwieg. Von den mondbeschienenen Felsen her kam ein unheilverkündendes Grollen… 

Geister
Ein junger Mann, ein alter Mann und ein Baum

In einer dunkelfeuchten Höhle unter den hochragenden Wurzeln eines mächtigen alten Nohua-Baumes saßen der junge und der alte Mann. Nur ein kleines Ölflämmchen erhellte ihre so unterschiedlichen Gesichter. Sie waren bereits vor Morgengrauen schweigend in die Eingeweide des Baumes gegangen und hatten sich vorbereitet. Nun nahm der junge Mann eine schlichte Tonschale aus den Händen des alten Mannes entgegen und trank ohne zu zögern daraus. Der Keal des alten Baumes wusste, was er da trank. Es war das Baleo, das Geistwasser, welches den Menschen einen Weg durch die Schatten in seine Welt öffnen würde. Hätte der Baum in dieser Gestalt aufmunternd blinzeln können, hätte er es gewiss getan. So wartete er jedoch nur in der Stille auf das, was da kommen musste. Ein paar Minuten vergingen, dann verdrehte der junge Mann plötzlich die Augen. Sein nackter Körper begann in stummen Krämpfen zu zucken. Einige Minuten lang wand sich der arme Mensch in röchelnder Agonie, bis er endlich wieder ruhig wurde. Sehr ruhig. Es war ein gutes Baleo, was der Alte da gemischt hatte, denn alles ging vergleichsweise schnell vorüber. Der Keal des Baumes wartete zusammen mit dem Alten, während sein Anderbild den jungen Mann auf der Schattenseite der Welt in Empfang nahm…

Nach vielen Stunden zuckte der Körper Uralaos erneut. Diesmal war es aber mehr ein Zucken, wie es einer im Schlafe tut, wenn er im Traum meint, über einen Stein zu stolpern. Er riss die Augen weit auf. Feine Äderchen waren darin geplatzt und färbten sie blutig rot. Sein Blick war unstet und irrte in dem Versuch, sich zurecht zu finden, schnell von links nach rechts. Sein Atem ging schnell und stoßweise, als wäre er lange gerannt. Sein Lehrer Bunta gab leise beruhigende Laute von sich, näherte sich seinem Schüler vorsichtig und bedeckte dessen wie in Kälte zitternden Körper mit einem warmen Tuch. „Du hast es überstanden, Uralao.“, murmelte er. „Deine erste Prüfung als Schamane hast du bestanden, denn du bist erfolgreich aus der Welt der Keal, der Geister, zurückgekehrt. Weder der Baleo noch ein dir feindlich gesinnter Keal haben dir den Andertot beschert. Deine Essenz ist in deinen Körper zurückgekehrt und beide sind nun stärker und weiser als zuvor.“ Er half dem jungen Mann, sich aufzusetzen, und strich ihm solange über den Rücken, bis er sich wieder beruhigt hatte. Nachdem er einige Schlucke klares Wasser zu sich genommen hatte, führte Bunta ihn aus der Höhle ins langsam sinkende Sonnenlicht. Sie atmeten die frische Luft in tiefen Zügen, denn die Höhle war stickig gewesen. Dann erkletterten sie den Stamm des alten Baumes bis zu einem hoch gelegenen breiten Ast und setzten sich auf diesem nieder. Schließlich forderte Bunta den Jungen auf: „Und nun erzähl. Was ist dir in der Welt der Keal begegnet?“ Und Uralao erzählte gehorsam, während der Alte und der Baum in Ruhe zuhörten…

„Die Welt, die in den Schatten liegt, erschien mir erst wie die unsere…aber eigentlich ist sie ganz anders. Alles dort ist…irgendwie mehr, als es hier ist. Lebendiger, in Bewegung…ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Alles was hier ist, ist auch dort und doch mehr als es hier ist.“

„Das ist so, weil es die Welt der Keal ist. Dort weilt ihre Essenz, das, was sie wirklich sind, während wir hier nur ihre Schattenkörper sehen. Deswegen ist ein Keal, der in dieser Welt stirbt, auch niemals wirklich tot. Sein Schatten kehrt zurück zu seiner Essenz, bis er erneut in diese Welt geboren wird. Keal sind immer zweigestaltig, während wir Menschen nur eingestaltig sind. Unsere Essenz und unser Körper sind von der Geburt bis zu unserem Tod eins, es sei denn, wir trinken eine stärkere Form des Baleo. Sag, was hast du noch erlebt, Uralao?“ Der Junge überlegte und strich dabei liebevoll über den Ast, auf dem er saß. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, während er weitersprach: „Ich habe den Keal dieses Nohua-Baumes getroffen. Er hat mich auf der anderen Seite begrüßt und auf mich Acht gegeben.“ Bunta nickte. „Dieser Baum ist ein Freund unseres Stammes. Unsere Leben sind schon seit vielen Jahren miteinander verbunden. Unsere Hütten sind in den Kronen seiner Ableger gebaut. Was hat er dir gezeigt?“

„Er hat mir erklärt, wie es ist zu leben, zu sterben und erneut zu leben, wenn man, anders als wir, seine Erinnerungen behält. Man bleibt eins mit sich, auch wenn man jedes Leben anders lebt und empfindet.“ Uralao sah Bunta mit strahlenden Augen an. „Es muss großartig sein! Jedes Leben bewusst zu leben. Jeden Tod bewusst zu sterben.“ „Diese Form der Existenz ist uns Menschen leider verwehrt, Uralao. Alles was wir Menschen tun können, ist aus jedem unserer Leben das Beste zu machen. Aber wir werden immer jemand anderes sein.“

 

Uralao schwieg eine kleine Weile, während der Himmel sich über ihnen endgültig rot färbte. Schließlich sagte er: „Ich glaube, ich habe die Stimmen einiger großer Geister hören können.“

„Welcher Geister?“

„Da war ein tiefes sprudelndes Murmeln in der Erde. Ein fließendes Lied in der Tiefe.“

„Das war die Stimme der Ninurta, der unterirdischen Wasser. Sie speist alle Flüsse und Seen, die ihre Kinder sind. In Bildern malen wir Menschen sie oft als ein schwarzes Krokodil.“

„Dann war da ein Zischen im Himmel. Ein Rascheln im sich bewegenden Licht.“

„Das war Shamash, der Leuchtende. Er ist die große Sonne am Himmel. Wir gedenken seiner als goldene, zusammengerollte Schlange.“

„Und dann war da noch ein leises Kinderlachen im Wind. Es klang glücklich, aber auch ein wenig übermütig.“ Bunta lächelte. „Das war das Lachen Sinushs, des großen Windes. Er ist erst vor kurzem neu geboren worden, das hat uns der große Sturm vor drei Monaten gesagt. Wir erinnern an ihn durch den Silberfalken. Denn auch wenn jedes Leben eine neue Form mit sich bringt, brauchen wir Menschen beständige Bilder von den Keal, um uns ihrer zu gemahnen.“

„Alami hat mir erzählt, dass die Keal im Norden andere Namen und Gestalten haben. Das hat sie von dem Nordling erfahren, der seine Götter zu uns bringen wollte. Der, der aussieht wie ein bleicher beleidigter Käse.“ Das Lächeln seines Meisters verschwand nicht, als er weitersprach. Es wurde nur eine Spur zynisch. „Wir Menschen machen uns immer die Bilder von den großen Keal, die wir am besten verstehen. Mich wundert nur, dass die Kutte sich überhaupt noch an sie erinnert.“

„Er beleidigt die Keal, Meister. Ich denke, sie würden sich freuen, wenn wir ihnen sein verräterisches Herz opfern würden.“

„Dafür ist es noch nicht Zeit. Auch wenn sie Scharlatane sind, die Götter haben das Volk des Mannes stark gemacht. Solange sie so stark bleiben, müssen wir lernen, mit ihnen zu leben, Uralao. Die Keal lehren uns, dass alles, was beginnt, auch endet. Wir müssen nur warten. Unsere Zeit wird kommen.“ Eine Weile schwiegen sie miteinander, der Alte, der Junge und der Baum. Sie schwiegen, bis das Licht des Shamash erloschen war und Nims rundes Gesicht am Himmel erschien. „Du hast heute viel gesehen und viel gelernt, Uralao. Lass uns nun ins Dorf zurückkehren.“ „Ja, Meister.“

Und so verließen die beiden Menschen den Nohua-Baum.

Diavonen
Wie Katz' und Hund

Die Auseinandersetzung auf dem übervollen Marktplatz in Sarr’ur hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Rakhshik sheik al’Mambra, das Oberhaupt einer diasyuthischen Karawane, war mit dem diavonischen Händler Mohan Khatun aneinandergeraten. Worum es dabei ging war Bahiti im Grunde egal. Diavonen und Diasyuth gerieten ständig miteinander in Streit. Sie selbst stammte aus Ordobi Dahar und hatte mit deren Querelen nichts zu schaffen.  Doch ihr gefiel das schlechte Gerede über ihren Handelspartner und Freund nicht, das nun zweifellos entstand. Tadelnd hob sie eine Augenbraue, als sie Mohans zerschlagenes Gesicht betrachtete, während er sich ihr gegenüber in der kleinen Teestube auf die Kissen sinken ließ. In der Schlägerei hatte er seine Gesichtsverhüllung verloren.

 

„War das wirklich nötig, Mohan?“, fragte sie mit ihrer dunklen Stimme vorwurfsvoll. Der süße Rauch ihrer Pfeife umgab sie dabei wie ein Schleier. „Das verstehst du nicht, Bahiti. Diese verlausten Kameltreiber müssen lernen, wo ihre Grenzen sind. Sonst tanzen sie einem nur auf der Nase herum!“ Bahiti konnte ein spöttisches Lächeln nicht zurückhalten. „Du hast recht. Ich verstehe es wirklich nicht. Was ist das mit euch Diavonen und den Diasyuth, dass ihr es zusammen nicht länger als drei Minuten in einem Raum aushaltet, ohne dass ihr einander an die Gurgel geht?“ Mohan lachte herzlich. „Man könnte sagen, dass ist nun einmal unsere Kultur. Nein, wahrscheinlich sogar unsere Natur. Wir sind einfach zu verschieden.“

„Mal ehrlich, Mohan. Ich kann eure Völker eigentlich kaum auseinanderhalten, bis ihr euch nicht vorstellt. Zugegeben, ihr Diavonen verschleiert eure Gesichter in der Öffentlichkeit und die Diasyuth nicht. Aber sonst tragt ihr dieselbe Kleidung, eure Krieger und Schamanen tragen dieselben Tätowierungen, ihr benutzt dieselben Redewendungen und esst dieselben Sachen. Was bitte soll dieser große ‚natürliche‘ Unterschied sein, dass ihr ständig für Skandale sorgt?“ Mohan schien einen Moment zu überlegen und nippte an seinem dampfenden Jasmintee. „Unterschiede gibt es viele… Zum ersten lässt deine Beobachtungsgabe etwas nach, Bahiti. Wie dir offenbar entgangen ist, tragen unsere Krieger und Schamanen die Linien der Macht rechts, auf der Verstandesseite des Körpers. Ihre Leute dagegen auf der linken, also der Herzseite. Das erklärt auch, warum sie so unüberlegt und hitzköpfig sind.“ Der Diavone hatte sich beim Reden bequem in die Kissen zurückgelehnt und schien sich offensichtlich für dieses Thema zu erwärmen . Beinahe heiter setzte Mohan seine kulturellen – Verzeihung – 'natürlichen' Betrachtungen über Diavonen und Diasyuth fort.

 

„Die Unterschiede zwischen uns haben darüber hinaus sehr tiefe Wurzeln.“ Mohan stellte seinen Tee wieder zur Seite, um die Hände zum Gestikulieren nutzen zu können. „Zum Beispiel unsere Lebensweise! Weil die diasyuthischen Dunggesichter so faul und behäbig sind, bleibt diese Schlangenbrut Zeit ihres Lebens in Familienverbänden. Und das über Generationen hinweg. Höchstens zehn Familien bilden einen Stamm, Bahiti, höchstens zehn! Kein Wunder, dass sie so verkommen und verblödet sind. Das kommt vermutlich alles vom Inzest!“

„Eure Stämme bestehen doch ebenfalls aus höchstens zehn Familien, Mohan.“

„Aber nicht unverändert über so lange Zeit hinweg. Ach lass das mit deiner Augenbraue Bahiti! Es ist so: Bei UNS verlassen die Kinder mit höchstens sechzehn ihre Familie und ihren Stamm. Sie gehen in die Welt und finden sich zu eigenen, neuen Stämmen zusammen. Freundschaft und gemeinsame Ziele sind das, was diavonische Stämme verbindet. Nicht Blut. In diesen bunt gemischten neuen Stämmen finden sich mit der Zeit auf ganz natürliche Weise neue Familien zusammen. Darum ist unser Blut auch immer frisch. Das ist doch wirklich ganz etwas Anderes."

"Und wenn du noch mehr Beweise willst, dass die Diavonen den Diasyuth überlegen sind, dann gehe zurück in die Urgeschichte unserer Völker! Unser Volk geht zurück auf Avon, den ersten Sohn des großen Windgeistes Sinush. Die Diasyuth dagegen stammen von Asyuth ab, seinem zweiten Sohn. Beide wollten die Anerkennung ihres Vaters erlangen. Also machten sie ihm jeder ein Geschenk. Avon erschuf mit seiner Gabe die Gletscher und Gipfel des Kandris-Gebirgsrings und schmückte ihre Tiefen mit den Gaben seines Paten Orakon. Juwelen und Erze funkeln seither in seinem Innern. Asyuth jedoch, dem nichts weiter einfiel, nahm den Staub, der von der Arbeit seines Bruders abfiel und schuf damit die Wüste.“, Mohan brach in brüllendes Gelächter aus. „Die Wüste, Bahiti! Nutzlose Mengen an Sand!“

Mohan amüsierte sich genug für zwei. Bahiti befand darum, dass sie in sein Lachen nicht einstimmen musste, auch wenn es noch so ansteckend war. Was sie ihm ebenfalls hinter ihrem sympathischen Lächeln verbarg, war der Umstand, dass sie sich schon morgen mit einem anderen, ihr freundschaftlich verbundenen Handelspartner treffen würde. Sein Name war Mustafa sheik al’Rhazar und er war ein Diasyuth. Sie war sich sicher, dass er einige dieser Aspekte, die Mohan ihr soeben eröffnet hatte, anders beurteilen würde…

Hört die Geschichte über den Ursprung der Wüste...
Diasyuth

"Innana veh! Kommt und hört zu! Kommt, meine Freunde, Brüder und Schwestern. Meine Nichten und Neffen, Kinder und Kindeskinder! Kommt ans Feuer und hört, wie es kam, dass unsere große Wüste Asyuth, unser aller Mutter, entstand und warum wir so lange mit unseren Feinden, den Diavonen, um sie gekämpft haben. Denn ihr müsst wissen, einst waren wir Brüder. Die ersten Kinder des großen Windgeistes Sinush.

Sinush zeugte zuerst den Avon, den Urvater der Diavonen. Danach zeugte er Asyuth, seinen zweiten Sohn und unser aller Urvater. Sinush liebte Asyuth mehr als Avon, weshalb beide Brüder miteinander in Streit gerieten. Um seinem Vater zu beweisen, dass er der bessere Sohn sei, erschuf Avon mit seiner Gabe die finsteren Klüfte des Kandris-Gebirgsrings. In seinem inneren versteckte er mit Hilfe seines Freundes Orakon glänzende Schätze, Edelsteine und Erze, um die Lebenden in seine Tiefen zu locken. Stolz trat der Törichte vor seinen Vater und forderte dessen uneingeschränkte Liebe, denn er habe ihm ein schönes und nützliches Geschenk gemacht. Doch Sinush geriet über dieses vermeintliche Geschenk in Zorn. Denn die Berge, die sein Sohn leichtfertig aus der Erde geschnitten hatte, waren ihm ein Gefängnis. Sie schränkten sein zuvor unbegrenztes Herrschaftsgebiet ein und wollten seiner Macht nicht weichen, so sehr er sich auch gegen sie warf. Sinush wollte Avon darum vernichten, doch Asyuth, der im Grunde seines Herzens gut war und seinen Bruder liebte, nahm schnell den Staub, den Avon zurückgelassen hatte. Aus diesem erschuf er die große Wüste, die heute seinen Namen trägt. Mit Hilfe seiner Freundin Ninurta ließ er an verschiedenen Stellen in der Wüste blühende Gärten und erfrischende Quellen wachsen, die das Auge erfreuten. Er schenkte sie seinem Vater als sein Reich, in dem er uneingeschränkt herrschen, erschaffen und vernichten konnte, wie es ihm gefiel. Sinush mochte dieses zweite Geschenk sehr und fragte seinen Asyuth, was er sich zum Lohn wünsche. Zum Dank bat dieser jedoch nur darum, dass Sinush den Avon verschonen und am Leben lassen würde.

Aber denkt ihr, Avon und seine Nachkommen hätten diese großmütige Tat dem Asyuth und seiner Sippe je gedankt? Nein. Sie fielen schon bald in unsere Stammlande ein und kämpften mit uns um die Herrschaft über die Wüste. Gierig beanspruchten sie die Vorherrschaft über das Reich, welches Asyuth erschaffen hatte, denn sie sind von Natur aus neidisch und missgünstig. Sie geben nichts auf geteilte Blutsbande und verachten das, was uns das Höchste ist: die Familie. Aber wie kann man einem Menschen trauen, der Vater und Mutter, Bruder und Schwester verschmäht? Drum traut nie einem Diavonen!"

Fraktionen
Die Stimmen des Nordens

Vor ungefähr einem Monat gab es einen Überfall auf einen Handelsposten der Eudokia in Berbkaa. Alle Menschen, die sich dort befanden, wurden entweder getötet oder verschwanden spurlos. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und als sie schließlich auch den Norden erreichte, ging sie an keinem der wichtigsten nördlichen Würdenträger und Fraktionen vorbei...

 

Die erste Stimme: "Ordo Tenebrarum"

Die Feder kratzte über das gute Papier. So scheint es, dass die Bewohner des Südens uns nicht allesamt feindlich gesonnen sind. In den Dachhäusern der Swelu, so berichtet Magister Iolanis, - das Kratzen hielt inne. Einen Augenblick lang schwebte die Feder zögerlich, bevor ihre Besitzerin sie zurückzog, um Tropfen zu vermeiden. Schon wieder diese Glocken! Seit Tagen schon schallten sie dem Empfinden nach unentwegt, seit dem Augenblick, als die Nachricht von dem Angriff in Berbkaa einging. Es war entnervend. Wie soll ich da auch nur ein Schundgedicht erfassen, ganz zu schweigen von Reiseberichten von Magistern Vectores und Venatrixes! Vor allem weil diese Seefahrer und Jäger auch keine Meister der Schreibkunst sind… Artificis Doctus Alanna seufzte, reckte sich und ergab sich ihrer Ablenkung. Noch nicht einmal eine Meisterin von Silen konnte sich ohne Pause konzentrieren, schon gar nicht bei solchem Lärm. Fast unwillkürlich schlossen sich ihre Augen. Bilder von muskulösen südlichen Kriegerinnen liefen leichtfüßig in ihre Gedanken und sie schwelgte einen kurzen Moment in der anregenden Fantasie, bevor sie sich resigniert wieder dem Hier und Jetzt widmete. Der Ordo Tenebrarum würde früh genug die Geheimnisse der südlichen Geisterkräfte aufdecken – und die ihrer schönen Besitzerinnen natürlich…

Die zweite Stimme: "Das kaiserliche Militär"

 

Turmarch Claudius Caringata ballte die Fäuste. Die Nachricht war zwei Tage alt. Zwei Tage! Früher hatte man es nicht für nötig gehalten, ihn darüber zu informieren, was diese Barbarenschweine da angerichtet hatten. Offensichtlich ein dreister Überfall auf einen Handelsposten in Berbkaa. Und inzwischen waren die Urheber dieses Verbrechens natürlich über alle Berge, dank der Inkompetenz dieser Stümper von Eudokianischen Söldnern, dieser Möchtegern-Soldaten! Claudius hielt inne. Vielleicht hatte die Sache ja auch etwas Gutes. Womöglich würde der Kaiser nun bereit sein, seiner Armee wieder die Befugnisse zu übertragen, in den Provinzen für Ruhe zu sorgen, wie es ihre Aufgabe seit jeher hätte sein sollen. Er legte die Stirn in Falten. Es musste schnell gehandelt werden. Der Bericht, obgleich spärlich und lückenhaft, ließ ihn auf einen gut geplanten, schnell und hart ausgeführten Angriff mit maximaler Effizienz schließen. So etwas hatte Vorbildcharakter. Wenn man zögerte, und die Haustruppen der Eudokier waren ja schon jetzt überfordert, konnte sich das zu einem Aufstand der Provinzen ausweiten. So weit durfte man es auf keinen Fall kommen lassen. Claudius griff zur Glocke, um seinen Adjutanten zu rufen und ließ sich von seinem diavonischen Diener, der mit gesenktem Kopf auf Befehle gewartet hatte, Wein nachschenken.

Die dritte Stimme: "Die Familie Maecer"

Die kleine, aber durchaus feine Galeere schwankte auf den Gewässern rund um die nominelle Hauptstadt der Provinz Zirdán. Der ehemalige Handelsposten Kaloe war mittlerweile zu dem wichtigsten Knotenpunkt der Küstenregionen geworden, weshalb das Haus Maecer seinen Sitz auch hier hin verlegt hatte. Gregorus Maecer, Oberhaupt der Familie, ruhte ausgestreckt auf seinem Diwan und besah sich im fahlen Licht einiger Kerzen das Dokument, welches ihm eben zugestellt worden war. “Ausgezeichnet...” Der stämmige Mann hatte ein grobschlächtiges Gesicht, auf dem dieses dunkle Grinsen wirklich furchtbar aussah. Dabei wirkte er mit seinem kahlrasierten Kopf und der mehrfach gebrochenen Hakennase wie ein besonders alter und hässlicher Raubvogel. “Harpagos!” rief der Mann aus. Ein junger, dürrer Mann huschte herein. “Nimm dir Federkiel und Papier...ich diktiere.” Gregorus richtete sich schwerfällig auf und goss sich vom Wein ein, während der Schreiberling nach seinen Utensilien fischte.  “Verehrte Theodora, aus dem Haus Eudoker, mit bedauern habe ich die Kunde von der schrecklichen Tragödie in Berbkaa erhalten…“ Gregorus setzte den Kelch an die Lippen und stürzte den Wein in einem Zug hinab, wobei ihm die dunkelrote Flüssigkeit wie Blut vom Kinn troff.

Die vierte Stimme: "Die Beamte des Kaisers"

Tertius massierte sich die pochenden Schläfen. Seine Kopfschmerzen wollten einfach nicht nachlassen. Aber wie sollten sie das auch? Immerhin war er noch immer von Idioten umgeben. Sie saßen am Tisch, um die neusten Nachrichten aus dem Süden zu besprechen. Warenlisten, Strafregister, Wetterberichte... Langweiliger Alltag. Doch die Nachricht des Angriffs auf Berbkaa hatte die Stimmung schnell kippen lassen. Tertius schloss die Augen und kniff sich in den Ansatz seiner Nase. Der Tumult der anderen half nicht im Mindesten – weder der Situation noch seinen Kopfschmerzen. Aber was konnte man erwarten, wenn man Adelige ohne passende Ausbildung als Vorgesetzte hatte? Pfeifen, allesamt! Und erst ihre Forderungen, lächerlich! Einmarschieren? Das war Aufgabe des Militärs und Entscheidung des Kaisers. Rache? Keine gute Idee. Aber bring das mal Eudokern bei. Sie würden noch so enden wie Cornelius Andronikus. Gebete und Gedenkminuten? Unnütze Sentimentalität! Nach einer Weile ließ das aufgebrachte Gebrüll nach und Tertius konnte versuchen, die edlen Dummköpfe wieder in die richtige Richtung zu lenken.

Die fünfte Stimme: "Die Liga von Fermaton"

Lucas‘ Hand zitterte, während er die Botschaft las. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Wilden aus dem Süden nicht die Mühe wert waren, die man auf sie verschwendete – quod erat demonstrandum, wie es der Gründer der Liga wohl gesagt hätte. Die Eudoker Truppen hatten es fast schon verdient – welche verqueren Prioritäten ließen sie mitten im südlichen Nichts Festen aufbauen, wenn die Leute hier im Norden Hilfe brauchten? Seine Zähne knirschten, als er sich umsah. Die Nachricht hatte ihn bei der Inspektion eines der unzähligen Weiler Everenns erreicht, die von den Hungersnöten des Landes mit am ärgsten getroffen worden waren. Einen kurzen Augenblick übermannte ihn die Wut fast, aber er atmete tief durch und zwang sich, seine Gedanken über mögliche Gönner fortzuführen. Auf wen wäre Verlass? Die Eudoker standen schon vor dem Angriff nicht gut da. Sie hatten nicht verhindert, dass die auffällig früh geworfenen Kinder der südländischen Prinzessin am Hofe des Kaisers Akzeptanz gefunden hatten – hah, sie hatten noch nicht einmal eine dahergelaufene Schlampe niederen Blutes davon abhalten konnten, sich einen ihrer Söhne zu krallen! Dann also doch die Kirche? Sie hatten die heilige Pflicht, zu helfen. Leider hatten sie bisher auch die weltliche Verschlagenheit bewiesen, ihre investierten Ressourcen auf ein Minimum zu begrenzen. Der Familie Maecer wiederum sagte man brutale Methoden nach – vielleicht genau das, was in Everenn nötig war, um das kriminelle Chaos zu tilgen, was die Probleme noch weiter verschärfte, wäre da nur nicht der Verdacht, dass die Maecer selbst in der Vergangenheit aus solchem Chaos Profit geschlagen hatten. Er seufzte. Eine klägliche Auswahl an Verbündeten, doch in der Not fraßen die Geister auch Fliegen, so hieß es doch…

Die sechste Stimme: "Der Ordo Tutelae"

Artifex Sanara Leonatus unterdrückte den leichten Würgereiz. Auch nach zwölf Jahren, in denen der Meister von Alyr, der Heilerin, als Spezialist bei kniffligen Gewaltverbrechen hinzugezogen wurde, bereitete der Anblick dessen, was Menschen einander antun konnten, Übelkeit. Vor ihm ausgebreitet lagen detaillierte und farbige Zeichnungen einiger Opfer des Angriffs in Berbkaa. Einige waren nur noch blutige Fleischklumpen, andere waren offenbar gehäutet worden – Leonatus betete, dass dies erst nach dem Eintritt des Todes erfolgt war – doch was ihn wirklich bedrückte, waren die Brandmale. Alle hatten die perfekte Form einer Hand, allerdings nicht in stets nur einer Position, wie sie etwa durch eine erhitzte Eisenform evoziert würden, sondern immer so, als hätte sich eine tatsächliche Hand den Opfern auf die Haut gelegt. Nach einer Weile seufzte er und rieb sich die müden Augen. Diese Opfer waren Inhaber wichtiger Positionen in dem eudokischen Handelsstützpunkt gewesen und dem Augenschein nach vor ihrem Tod gefoltert worden. Er blickte zu dem Soldaten hoch, der immer noch in derselben Position verharrte, die er nach seinem Eintritt angenommen hatte. „Euer Befehlshaber hat recht mit seiner Vermutung.“, sagte Leonatus. „Solche Wunden können nur durch Geistermagie entstanden sein. Ein Anhänger Marduks hätte sich dafür die eigene Hand verbrennen müssen. Wir suchen also mindestens einen mächtigen Begabten. Ich werde diesen Bericht an den Ordo Tutelae weiterleiten. Der Rat des Ordos wird entscheiden, in welchem Umfang euch Unterstützung von Seiten der Tempel in den Süden geschickt wird.“ Wieder schloss Leonatus seufzend die Augen, doch er wusste, dass es bereits zu spät war. Die schrecklichen Bilder hatten sich bereits unwiderruflich in seine Erinnerung eingebrannt.

Die siebte Stimme: "Das Haus Valenius"

Egeas Valenius erwies den Statuen Amrhans, Vivianas und Marduks in ihren Schreinen im Tempel des Ordo Muneris seinen Respekt. Die zahlreichen armseligen Gestalten in der Haupthalle griffen ehrfurchtsvoll nach seinem Mantel, während er an ihnen vorbeischritt. „Fasst du den Valeniern am Saum, berührst du ein Stück vom Glück“, hieß es im Volksmund. Egeas lächelte ihnen und den überarbeiteten, müde dreinblickenden Priestern und Priesterinnen zu, doch war er heute nicht ganz bei sich. Vieles ging ihm zurzeit im Kopf herum. Da war der Überfall in Berbkaa – doch was erwarteten die Eudokia auch, wenn sie die Interessen ihres Hauses den Launen der südlichen Barbaren auslieferten? Die oberste Verpflichtung des Adels lag immerhin bei seinem eigenen Volk! Egeas schüttelte eine trockene, kalte Hand, deren Haut so dünn wie Papier schien. Da war aber auch der Bericht seines Bekannten Aegis von seinem Besuch am Hof von Cornelius Andronikus, dessen Exil ihm wohl gar nicht gut tat. Er hatte sich ungewöhnlich verzweifelt und besorgt, beinahe schon manisch gezeigt, und Aegis gebeten, für ihn ein gutes Wort beim Kaiser einzulegen. Hah! Dieses Grab hatte Cornelius sich beim Friedensschwur vor zwei Jahren selbst geschaufelt. Wenn die Valenier endlich ihren verdienten Herzogstitel von Terén bekämen, würde Egeas der erste sein, der den Grabstein setzen würde. Sein Lächeln wurde bei diesem Gedanken eine Spur freundlicher. Zeit, sich seinem eigentlichen Besuchsgrund zuzuwenden. Sein Blick fixierte auf dem Ausweg kurz einen abgezehrten und alt wirkenden Mann. Als er sich ihm näherte, erlitt der Bettler einen schlimmen Hustenanfall. Egeas fing ihn auf, bevor er zu Boden stürzen konnte, und half ihm erneut auf die Beine. Mit tragender Stimme wies er einen Alyrpriester an, sich den armen Leidenden näher anzusehen und drückte ihm gleich drei Münzen in die Hand, bevor er sich rasch zum Ausgang begab. Endlich im Freien zog Egeas ein kleines Bündel aus einer versteckten Tasche in seinem Mantel. Bei der kleinen Szene im Tempel war niemandem die Übergabe aufgefallen, erst recht nicht nach dem lauten Erstaunen, den seine Großmut hervorgerufen hatte. Er entfaltete ein paar schmuddelige Papiere, die in der gewohnten kaum leserlichen Handschrift bekritzelt waren. Von den wenigen Flüsterern, die lesen und schreiben konnten, konnte man nicht auch noch Schönschrift verlangen. Die übrigen Berichte zu verstohlenen Aktivitäten ignorierte er – nur die zerknitterte Seite, die mit auffällig sauberer Schrift bedeckt war, interessierte ihn. „Ein Gespenst geht um im Reich! Ein faulig-süßes Gespenst, das die Mächtigen befällt zum Schaden der Gemeinen…“ Als er in den lästerlichen Zeilen den Namen seiner Familie las, spürte Egeas eine lodernde Wut in sich aufsteigen.

Die achte Stimme: "Das Haus Eudokia"

Der Angriff auf Berbkaa war nur eine Frage der Zeit gewesen. Theodora hatte damit gerechnet. Die Meldungen ihrer Spione und ihrer Informanten waren zwar nicht eindeutig, aber dennoch sehr vielsagend. Dass es ausgerechnet Berbkaa traf und das Massaker solche Ausmaße angenommen hatte, setzte allerdings auch der Herzogin zu. Da sie sich nun sicher war, dass es zu noch mehr Anschlägen gegen die südlichen Stützpunkte ihrer Familie kommen würde, hatte sie sich auf direktem Weg in den Kaiserpalast begeben. Theodora hatte Konstantin nun beinah seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Natürlich wurde sie immer noch zu den offiziellen und auch zu den meisten inoffiziellen Festen und Gesprächen geladen. Doch wo sich der Kaisersohn früher Rat bei ihr geholt hatte oder sich ihre Unterstützung sichern wollte, vertraute er nun offenbar auf die Einflüsterungen seiner Frau. Theodora wartete im Augenblick im Vorzimmer der kaiserlichen Gemächer. Dicke Teppiche und Wandbehänge sorgten für eine lauschige Atmosphäre, ebenso wie der prasselnde Kamin. Plötzlich wurde die Stille durch lautes Kindergeschrei durchbrochen und eine Hebamme betrat durch die Seitentür den Raum. Die Frau hatte sichtlich mit dem Säugling zu kämpfen, der vor sich hin jammerte. „Herrin!“ rief sie aus, als sie der Herzogin gewahr wurde. Die Eudokerin zeigte nur ein spitzes Lächeln und bewegte sich elegant auf die Hebamme zu. „Nun, wen haben wir denn da?“  Der Säugling verstummte sofort, als sich Theodora in dessen Blickfeld beugte, und sah die Herzogin mit großen Augen an. Noch bevor sie dem kleinen Menschlein einen Finger entgegenstrecken konnte, drang eine schneidende Stimme durch den Raum. Die Herzogin wirbelte herum und sah sich der Prinzessin, Amirah, gegenüber. „Amme, ich habe Euch aufgefordert, das Kind sofort zu mir zu bringen!“ Die Hebamme eilte taktlos an der Herzogin vorbei, welche ihr auf schnellem Schritt folgte. „Ich warte nun schon seit geraumer Zeit, Hoheit. Euer Gatte muss von meinem Ansinnen erfah...“ Doch weiter kam Theodora nicht. Amirah schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. „Konstantin verbringt Zeit mit seiner Familie. Fragt seinen Sekretär nach einem neuen Termin.“ Und so schnell wie die Südländerin aufgetaucht war, so schnell war sie wieder verschwunden. Theodora blieb, wie vom Blitz getroffen, zurück. Ihre Finger hatten sich in den Stoff ihres Kleids gekrallt. Wütend starrte sie die Tür an. „Nun, wenn du mir nicht helfen möchtest Konstantin, dann wirst du sehen was du davon hast...“

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